Licht von Oben - Buchdeckel

Ich verliere meine Mutter und finde eine Freundin

Zwei Jahre war ich im Hause der alten Mamsell Mummel gewesen, da erhielt ich einen schwarzgesiegelten Brief; er war von meinem Vormunde. Eine bange Ahnung erfasste mich. Meine Herrin erlaubte mir, den Brief auf meiner Kammer zu lesen. Ich eilte hinauf. Zitternd und mit laut klopfendem Herzen erbrach ich das Siegel. Mein Vormund schrieb: „Es ist mir leid, Dir mitteilen zu müssen, daß Deine Mutter nach kurzer Krankheit gestern Abend um 9.30 Uhr gestorben ist.“

Weiter las ich nicht; ich legte den Brief auf den Tisch und weinte; ich weinte lange und bitterlich. Jetzt waren wir Kinder ganz verwaist; jetzt war uns auch die letzte irdische Stütze genommen. Hatte meine Mutter auch wenig für uns tun können, so war sie doch einerseits das Band gewesen, durch welches wir Geschwister auch äußerlich zusammengehalten wurden, denn durch sie hatten wir Kunde von einander erhalten; und andererseits hatte ihre Liebe und Zärtlichkeit, wie dieselbe aus ihren Briefen zu mir sprach, mich in der kalten Fremde wie ein warmer Lufthauch umgeben und mein Herz vor dem Erstarren bewahrt. Und jetzt war sie dahin, die liebe, gute, freundliche Mutter!

Wie lange ich gesessen und geweint, weiß ich nicht. Als ich mich so weit gefasst hatte, daß ich meinen Gedanken die Richtung nach oben geben konnte, kniete ich nieder und betete, von Weinen und Schluchzen unterbrochen, laut den 42. Psalm: „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu Dir!“ Diese Worte kamen mir unwillkürlich über die Lippen, und durch nichts hätte ich die Betrübnis und das Verlangen meines Herzens treffender ausdrücken können, als durch diesen Psalm.

Es ist doch ein ganz anderes Ding, einen Psalm beten, als ihn zu lesen! Nur im Gebet erfahren wir die in ihm ruhende Gotteskraft ganz an unserem Herzen. Auch ich durfte diese beseligende Kraft an meiner verzagten und bis zum Tode betrübten Seele erfahren, denn als ich mir mit den Worten des Psalms zweimal die tröstliche, zuversichtliche Mahnung ins Herz gesprochen hatte: „Harre auf Gott, denn ich werde ihm noch danken, daß er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist!“ da legten sich die hochgehenden Wogen des Schmerzes, und ich fühlte das Amen meines Gottes tief und warm im Herzen.

Das Gebet ist eins der wundersamsten Gnadengaben unseres Gottes; es schließt uns den Himmel auf und bringt uns in unmittelbaren, persönlichen Verkehr mir Gott. Das Gebet ist auch nicht eine einseitige Rede des Menschen an Gott, nein, es ist ein Gespräch zwischen der Seele und ihrem Schöpfer. Sind wir nun nicht zu ausschließlich mit unserer Rede beschäftigt, sondern nehmen wir uns Zeit und Stille, um auf die Antwort des heiligen Geistes zu lauschen, so können wir dieselbe sehr wohl in unserem Herzen vernehmen.

Auch ich vernahm die Antwort meines Gottes auf mein Schreien, denn eine Ruhe und ein Frieden, wie die Welt nicht zu geben vermag, kam über mich. Ich fühlte mich so gestärkt und getröstet, daß ich Gott danken konnte, daß Er meine Mutter allem Erdenelend entnommen und in sein himmlisches Reich versetzt habe. Dann las ich den Brief meines Vormunds zu Ende. Er schrieb: „Was aus Deinen beiden kleinen Geschwistern werden soll, weiß ich nicht, die werden mir wohl noch viele Mühe machen. Als Deine Mutter ihr Ende herannahen fühlte, hat sie für jedes ihrer Kinder einen Spruch aufgeschrieben, den Deinigen sende ich Dir hierneben.“

Ich nahm das Papier und entfaltete es. Das also waren die letzten Schriftzüge meiner teuren Mutter! Ich küsste das Blatt, dann las ich die Worte; es war der Schluss des Psalms, den ich soeben gebetet: „Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott, denn ich werde ihm noch danken, daß Er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist!“

Wie wunderbar! Dieselben Worte, welche soeben im Gebete meiner Seele Licht und Trost gebracht hatten, hielt ich jetzt als das Vermächtnis meiner sterbenden Mutter in meiner Hand. Mit ehrfürchtiger, heiliger Scheu betrachtete ich das Blatt. Es war mir, als blicke ich durch eine Spalte hinter den Vorhang, der das Diesseits vom Jenseits trennt, und als halte ich einen jener unsichtbaren Fäden, welche das Jenseits mit dem Diesseits verknüpfen, in meiner Hand.

Später habe ich das Blatt, welches das Vermächtnis meiner Mutter enthält, einrahmen lassen, und noch jetzt hängt es über meinem Bette. Und da soll es hängen, bis man mich zur letzten Ruhe bettet.

Der Spruch enthält für mich zwei Abteilungen. Mit der ersten: „Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir?“ bin ich, Gott sei Lob und Dank, schon seit längerer Zeit fertig. Ich habe mir in meinem langen Leben – das bekenne ich mit Scham vor dem Angesichte Gottes – viel unnötige Betrübnis und manche vergebliche Unruhe gemacht. Die wenigen Abendstunden meines Lebens, welche mir noch bleiben, gedenke ich nun aber der zweiten Abteilung zu widmen und ausschließlich zum Loben und Danken, daß Er meines Angesichts Hilfe und mein Gott gewesen ist und noch ist, zu verwenden.

Meine Herrin erlaubte mir, den Rest des Tages auf meiner Kammer zuzubringen. Ich war ihr sehr dankbar für diese Erlaubnis und benutzte die übrigen Stunden des Abends, um an meinen Vormund und an meine Geschwister zu schreiben.

Lotte brachte mir eine Tasse Tee und sagte: „Mamsell Nelly, nehmen Sie sich den Tod ihrer Mutter nur nicht allzu sehr zu Herzen. Es ist ja nun einmal nicht anders, die Alten müssen vor den Jungen sterben; und wir kommen mit der Zeit auch dran.“

So wenig Tröstliches diese Worte an und für sich auch enthielten, so taten sie mir doch wohl, denn ich fühlte es ihnen an, daß Lotte mir gern etwas Besseres und Trostreicheres gesagt haben würde, wenn sie etwas gewusst hätte.

Am anderen Morgen zog ich ein schwarzes Kleid an, weil ich glaubte, die Trauer meines Herzens auch den üblichen äußeren Ausdruck geben zu müssen. Als ich aber in meinem Traueranzuge vor meiner Herrin erschien, sah mich dieselbe einen Augenblick erschrocken an, dann verfinsterten sich ihre Züge und sie sagte. „Mamsell Nelly, ich habe nichts dagegen, daß Ihre Mutter gestorben ist, aber in Schwarz kann ich Sie nicht sehen; da würde ich ja fortwährend an den Tod erinnert, und der Tod ist schauderhaft. Das Leben ist schwer genug, ohne daß man sich dasselbe durch Todesgedanken noch mehr verbittert. Aus demselben Grunde müssen sie auch ein anderes Gesicht machen, als Sie heute Morgen haben. Sie sehen blass und verweint aus, das kann ich ebenfalls nicht ertragen. Ich habe Ihnen gestern den ganzen Nachmittag und Abend frei gegeben, um Sie in Ihrem Schmerze nicht zu stören; es muss aber alles seine Grenzen haben. Ich bitte also, Mamsell Nelly, jetzt wieder Ihr gewöhnliches Gesicht!“

Schweigend verließ ich das Zimmer meiner Herrin, um mich umzukleiden. Als ich die Treppe zu meiner Kammer hinaufstieg, erfüllten recht bittere Gedanken meine Seele; meine Herrin kam mir entsetzlich hart und lieblos vor. Als ich aber auf meiner Dachkammer die Worte meiner Herrin noch mal bei Oberlicht überdachte, da gewannen dieselben ein anderes Aussehen, sie verloren das für mich Verletzende und erweckten in mir Mitleid mit meiner Herrin. Dieselbe war mir noch nie so arm und verlassen vorgekommen, wie in diesem Augenblicke. Wie reich, wie glücklich war ich gegen sie!

Ich kleidete mich um und überdachte dabei, wie doch der Herr mein Leben von meiner frühesten Kindheit an so gnädig geführt habe; darüber war mein Herz so getrost und in Gott fröhlich, daß meine Herrin, als ich wieder vor ihr erschien, zu mir sagte: „Ich sehe mit Befriedigung, Mamsell Nelly, daß Sie sich meine Lehren zu Herzen nehmen und bemüht sind, meinen Wünschen nachzukommen; fahren Sie so fort, und ich hoffe, wir werden auch ferner gut mit einander fertig werden.“


Nach dem Tode meiner Mutter schrieb ich regelmäßig alle acht Wochen an meine älteste Schwester und erhielt eben so oft Antwort von ihr. Durch sie ward mir auch von Zeit zu Zeit Nachricht über die drei Brüder, sowie über die beiden Jüngsten Geschwister. Diese haben dem Vormunde, wie er gefürchtet, viel Mühe gemacht, denn es hat lange gewährt, bis sich auch für diese beiden verlassenen Kindlein barmherzige Menschen gefunden.

Diesen achtwöchigen Briefwechsel haben meine Schwester und ich bis in unser Alter ununterbrochen fortgesetzt, und ihm haben wir es zu verdanken, daß wir uns im Laufe der Jahre nicht fremd geworden sind, denn gesehen und gesprochen haben wir uns nur selten. Jetzt, seitdem ich mein Altersstübchen bezogen, suchen wir das lange Entbehrte nachzuholen, und es vergeht selten ein Tag, an welchem wir uns nicht sehen. Oft, wenn wir bei einander sitzen uns stricken, vertiefen wir uns in unsere gemeinsamen Kindheitserinnerungen, und das Bild unserer Eltern steigt alsdann lebendig vor uns herauf. Mein Bruder Johann Caspar kann hierbei nicht mitreden, seine Kindheit fällt in eine viel spätere Zeit, und von unseren Eltern hat er gar keine Erinnerung.

Die älteren Kinder haben gar manchen Vorzug vor den jüngeren; als der bedeutendste ist mir stets der Umstand erschienen, daß sie ihre Eltern länger besitzen, als die jüngeren Kinder. Bei uns Geschwistern ist dieser Vorzug so recht ins Auge fallend gewesen. Meine Schwester und ich haben eine deutliche, bis in kleine Einzelheiten sich erstreckende Erinnerung von unseren Eltern, und der Segen, der siech von ihrer Liebe und ihrem Geiste über uns ergossen, hat sich auch noch in unserem späteren Leben spürbar gemacht. Wie oft hat die Erinnerung an ein mahnendes und belehrendes Wort meines Vaters mir in meinem Leben den rechten Weg gewiesen, und wie oft haben auch noch in der Erinnerung der freundliche Blick und Liebkosungen meiner Mutter mein Herz in der kalten Fremde erquickt und erwärmt. Mein Bruder hat dieses alles entbehren müssen.

Es ist mir schon oft schwer auf das Herz gefallen, daß ich dem lieben Gott für diesen großen Vorzug lange nicht dankbar genug gewesen bin. Auch von dieser Gnadengabe wird es gewiss einst heißen: „Wem viel gegeben ist, von dem wird man auch viel fordern,“1 und ich möchte daher meine lieben Nichten, für die ich meine Blätter zunächst schreibe, hiermit so recht dringend ermahnen, diese Dankespflicht ja nicht zu vernachlässigen.

Es hat mit dem Danken, wie ich aus meiner eigenen Erfahrung weiß, eine gar eigentümliche Bewandtnis. Die meisten Menschen meinen, auf eine Gabe gehöre ein Dank, und damit sei die Sache abgemacht. Das ist aber nicht der Fall, denn die Dankbarkeit gegen Gott besteht nicht nur in einzelnen Dankesopfern, sie ist vielmehr ein dauernder Zustand des Herzens, welcher eine selige Wechselwirkung in sich schließt.

Das Wasser, welches als erquickender und befruchtender Regen aus den Wolken zur Erde niederströmt, ist zuvor als seiner, unsichtbarer Dunst der Erde selbst entstiegen; so kommt auch jedes Dankopfer, das unserem Herzen entsteigt, als spürbarer Segen wider zu uns zurück, indem es Kräfte des ewigen Lebens in unsere Seelen herabzieht. Das Danken ist also viel weniger ein Geben, als ein seliges Nehmen.


Etwa zwei Monate nach dem Tode meiner Mutter ging ich an einem warmen, sonnigen Juni Nachmittage wie gewöhnlich mit Minörken spazieren. Diese Spaziergänge waren mir im Anfange sehr unangenehm gewesen, denn ich schämte mich, von der Jugend des Städtchens als „Hundemamsell“ angesehen und angeredet zu werden. Nach und nach aber trat ich zu der Straßenjugend in ein ganz freundliches Verhältnis, und nachdem ich die Knaben ein paar Mal darum gebeten, ließen sie mich und Minörken in Ruhe.

Im Städtchen selbst hielt ich mich überhaupt nicht auf; ich wanderte so schnell wie möglich zum Tore hinaus und erging mich zwischen Gärten und Feldern. Was mir diese Spaziergänge in der warmen Jahreszeit besonders schätzbar machte, war der Umstand, daß ich dieselben zum Stricken und Lernen benutzen konnte. Sobald ich das Städtchen im Rücken hatte, befestigte ich Minörkens Leine an meinem Gürtel und zog ein Strickzeug aus der Tasche. Strickend und dabei Psalmen oder andere Bibelabschnitte aus meinem kleinen Testament lernend, wanderte ich langsam umher, bis die Turmuhr halb drei schlug.

Mein Vater pflegte zu sagen: „So lange wir das Wort Gottes lediglich in unserer Bibel haben, bleibt es für uns ein fremder Schatz, der uns wenig nützt. Nur diejenigen Sprüche der heiligen Schrift, welche wir auswendig wissen, sind ganz unser Eigentum, denn ihrer können wir uns jeder Zeit bedienen. Das Wort Gottes ist in seinen einzelnen Sprüchen wie eben so viele Samenkörner. Durch Auswendiglernen sammeln wir dieselben in die Scheune unseres Gedächtnisses ein. Dort dürfen sie indes nicht ausschließlich bleiben, sonst ergeht es ihnen, wie dem aufgespeicherten Korn, das zwar den Keim des Lebens bei sich trägt, aber doch tot ist, so lange es auf dem Kornboden bleibt. Das Korn muss in den Acker, wo Regen, Tau und Sonnenschein gar bald die im Korn schlummernde Lebenskraft wecken; und das Wort Gottes muss sich vom Kopfe hinab in den Acker unseres Herzens senken. Ist es da, dann schickt unser lieber Herrgott Regen und Tau in der Gestalt von allerlei Heimsuchungen, und dazwischen lässt Er die Sonne Seiner Güte und Freundlichkeit hell und warm scheinen, und dann pflegt das das Samenkorn im Herzen aufzugehen, zu wachsen und selige Frucht zu bringen.“

An diese Worte meines Vaters dachte ich, als ich zum ersten Male mein kleines Testament in die Tasche steckte, um es mitzunehmen.

Auf meinen täglichen Spaziergängen habe ich nach und nach eine große Anzahl Bibelabschnitte und später schöne geistliche Lieder auswendig gelernt und mir dadurch einen Schatz erworben, den ich in unzähligen Fällen für mich selbst und für Andere mit Nutzen habe verwenden können.

In dringlichen Fällen kommen uns bekanntlich die eigenen Gedanken gar leicht abhanden, und außerdem tröstet und ermahnt es sich, so weit meine Erfahrung reicht, viel wirksamer mit einem direkten Bibelwort oder einem Liederverse, als in der Umschreibung selbsteigener Ruhe.

Die Bibelsprüche und Liederverse, welche ich damals auswendig gelernt, haben sich mir Zeit meines Lebens in Freud und Leid als echte, treue Freunde erwiesen, und ihnen verdanke ich es hauptsächlich, daß ich, während ich in den Augen der Welt ein armes verlassenes Mädchen war, mich stets in Gott reich und selig gefühlt habe. Und jetzt, da die Arbeit und der Kampf des Lebens hinter mir liegen, und ich durch die Güte meines Gottes auf den Rest meiner Tage wie auf ein stilles Abendrot blicken darf, sind meine Sprüche und Liederverse mir in einsamen Stunden noch immer eine erfreuliche und segensreiche Gesellschaft.

Schon längst war mir nicht weit vor dem Tore ein Häuschen aufgefallen, welches in einem kleinen Garten lag. Haus und Garten sahen ungemein freundlich und friedlich aus, sonst war an beiden nichts Besonderes zu bemerken. Das Häuschen war weinumrankt, und sie Fensterscheiben blickten hell und klar aus dem Grün der Blätter hervor. Schon ein paar Mal hatte ich bei dem Anblick dieses Häuschens denken müssen: „Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen!“2 Wie ich gerade zu diesem Gedanken gekommen, weiß ich nicht; Ich fühlte aber einen unwiderstehlichen Zug des Herzens zu dem stillen Häuschen hin, oder richtiger zu dessen Bewohnerin, die gewöhnlich strickend am Fenster saß, vor sich auf der Fensterbank zwischen Blumen in einem zierlichen Käfig einen Kanarienvogel. Sie war eine ältere vornehm aussehende Frau und trug über ihrem schneeweißen, noch vollen Haar stets eine blendend weiße Haube. Häufig blickte sie auf die Straße, wenn ich vorüberging; aber ihr Blick war so ganz anders, als der meiner Herrin, wenn diese mit Minörken auf dem Schoß am Fenster saß und auf die Straße oder in ihren Spion blickte. Bei dieser Frau hatte ich das sichere Gefühl: „Die macht keine lieblose Bemerkung über dich.“

Vor ungefähr vierzehn Tagen hatte sie mir, als ich vorüberging und meiner Gewohnheit gemäß meinen Blick auf dem stillen Häuschen ruhen ließ, freundlich zugenickt, ich hatte den Gruß erfreut erwidert. Seitdem grüßten wir uns jeden Tag, und ich freute mich von einem Tag zum andern auf diesen kurzen, stummen Gruß. Es lag etwas in demselben, das mich an meine Mutter erinnerte, an meine liebe, gute, freundliche Mutter, die nun droben im Himmel war.

Ich kam mir auch nicht mehr so verlassen vor, seitdem mich jemand grüßte. Von Lotte habe ich erfahren, daß die Bewohnerin des stillen, freundlichen Hauses eine Dame aus vornehmer Familie sei, Mamsell Mühlenbrink heiße und eine kleine Großnichte bei sich habe.

Als ich am gedachten Juni-Nachmittage den gewohnten Gruß mit Mamsell Mühlenbrink gewechselt hatte und mich anschickte, weiter zu wandern, wurde die Haustür geöffnet, und ein kleines Mädchen von etwa fünf Jahren sprang durch den Garten mir entgegen. Sie hielt einen Blumenstrauß in der Hand, und denselben mir schon von weitem hinreichend, rief sie:

„Den schickt Großtante Dir, und wenn Du Zeit hättest, möchtest Du doch zu ihr ins Zimmer kommen!“

Ich nahm den Strauß, bedankte mich und überlegte, ob ich es wohl mit meiner Pflicht würde vereinigen können, auf einige Augenblicke einzutreten.

Die Kleine bemerkte mein Zaudern, nahm mich bei der Hand und sagte: „Der Hund darf mitkommen.“

Minörken schien die Einladung zu verstehen, denn er strebte mit allen Kräften der Gartenpforte zu. Die Kleine blickte mich mit ein Paar wunderlieblichen Kinderaugen so treuherzig und bittend an, daß ich nicht zu widerstehen vermochte. Wir durchschritten Hand in Hand den Garten und traten in das Haus. In der geöffneten Stubentür empfing mich Mamsell Mühlenbrink. Mir die Hand entgegenstreckend, sagte sie; „Wir kennen uns von Ansehen schon seit mehreren Jahren, wir sehen uns täglich und grüßen uns seit einiger Zeit, da ist es denn nicht mehr als billig,daß wir uns auch einmal die Hand reichend ins Auge sehen und ein freundliches Wort mit einander wechseln.“

Sie führte mich ins Zimmer, und ich musste mich zu ihr ans Fenster setzten. Die kleine Angelika nahm mir Minörkens Leine ab.

Die Verlegenheit, welche mich beim Eintritt in das Haus hatte erfassen wollen, wich sehr bald bei Mamsell Mühlenbrinks freundlicher Anrede. Ihr klares Auge blickte mich so wohlwollend an, und der sanfte, weiche Ton ihrer Stimme erinnerte mich wieder an meine Mutter. Ich fühlte mich vom ersten Augenblicke an heimatlich wohl in ihrer Nähe. Sie fragte nach meiner Familie. Ich erzählte ihr von meinen Geschwistern und dem Tode meiner Mutter.

Teilnehmend reichte sie mir die Hand und sagte: „Der liebe Gott wird Sie nicht verlassen!“

Ich erwiderte: „Nein, das wird Er nicht!“ Und dann erzählte ich ihr von dem Vermächtnisspruch meiner Mutter.

Da schlug es zwei Uhr; es war die Zeit aufzubrechen, wenn noch etwas aus unserem Spaziergange werden sollte. Ich sah mich nach Minörken um; auch der schien sich hier behaglich zu fühlen. Die kleine Angelika kniete vor ihm auf der Erde; sie zerrte und zauste ihn mit ihren beiden Händchen und lachte dabei mit ihrem rotwangigen Kindergesicht hell und fröhlich an. Und der alte, verdrießliche Mops ließ sich ihr Zerren und Zausen nicht nur gefallen, sondern es schien ihm diese Behandlungsweise sogar eine angenehme Abwechslung von den sich immer gleich bleibenden Liebkosungen seiner Herrin zu sein, denn sein schwarzes faltenreiches Gesicht zeigte den Ausdruck ungewöhnlichen Wohlbehagens. Wir verabschiedeten uns, nachdem ich versprochen, unseren Besuch zu wiederholen.

Nach einigen Tagen schon wiederholte ich meinen Besuch, und bald verging kein Tag, an welchem ich nicht wenigstens auf ein paar Minuten im kleinen Häuschen vorsprach. Es war dieses Vorsprechen gleichsam nur ein etwas verlängerter Gruß; denn ich setzte mich nicht, sondern holte nur die kleine Angelika ab, welche mich, oder vielmehr Minörken auf unsern Spaziergängen begleitete. Während ich, wie sonst, strickend und lernend langsam dahinwanderte, lief sie mit Minörken vorauf und trieb mit ihm Scherze.

Zuweilen freilich wurde eine Ausnahme gemacht, und ich blieb ein halbes Stündchen bei meiner mütterlichen Freundin sitzen; denn eine Freundin in Wahrheit war mir Mamsell Mühlenbrink. Es läuft so manches Verhältnis unter der Firma „Freundschaft“ durch die Welt, das fiel richtiger eine andere Bezeichnung an seiner Stirn trüge. Bei den meisten so genannten Freundschaften ist es lediglich der natürliche Mensch in uns, welcher liebt, d.h. das Seine – sein Wohlbefinden und seine Unterhaltung – sucht; und deshalb pflegt eine solche Freundschaft auch aufzuhören, sobald der eine oder der andere Teil nicht mehr seine Rechnung bei ihr findet.

Die wahre Freundschaft aber sucht nicht das Ihrige, sondern das, was des Anderen ist; denn in ihr liebt der wiedergeborene Mensch. Der Herr Jesus, der beste Freund, hat uns in Seiner Freundschaft zugleich die Norm für alle irdischen Freundschaften gegeben. Nur die Freundschaft, welche etwas nach Seinem Geiste hat, verdient überall den Namen Freundschaft. Sie ist auch nicht dem Wechsel unterworfen, sondern ist bleibend, wie Alles, das auf den ewigen Felsen sich gründet und mit Kräften von Oben nährt.

Es gibt wenige wahre Freundschaften auf Erden. Mir ward das große Glück zu Teil, eine wahre Freundin in Mamsell Mühlenbrink zu finden. Was ich dieser Frau verdanke, ist geradezu unaussprechlich. Noch jetzt, obgleich sie schon seit länger denn dreißig Jahren zur Ruhe des Volkes Gottes eingegangen ist, segne ich ihr Andenken. Wie manches gute Samenkorn hat sie, oft nur mit einem treffenden Worte, in meine junge Seele geworfen, das später aufgegangen ist und mir segensreiche Früchte getragen hat!

Sie wußte, was meinem einsamen Herzen not tat, deshalb veranlasste sie mich häufig durch eine Frage, ihr von meinen Geschwistern und aus meiner Heimat zu erzählen. Nach meinen Erlebnissen und meinem Ergehen im Hause Mamsell Mummel aber fragte die mit feinem Takt nie; und als ich einmal unaufgefordert mein gepresstes Herz mit einer Klage gegen sie erleichtern wollte, wehrte sie meinen Mitteilungen, indem sie sagte:

„Liebe Cornelia – Mamsell Mühlenbrink liebte die Abkürzungen der Taufnamen, welche sie schlichtweg Entstellungen nannte, nicht – es gibt manche Dinge, die lassen sich am besten unbesprochen tragen, und Ihre Stellung im Hause der alten Mamsell Mummel gehört nach meiner Ansicht zu diesen Dingen. Ich glaube, ohne daß Sie es mir sagen, daß Sie dort manches Schwere zu tragen haben, aber sprechen wollen wir nie darüber. Sie kennen ja Den, Dem Sie, ohne indiskret zu werden, alles sagen dürfen, Dem unser Klagen und Erzählen auch nie zu viel wird, und Der uns, wenn wir in der rechten Weise zu Ihm kommen, auch nie ungetröstet gehen läßt. Mit Dem besprechen sie nur getrost alle Ihre kleinen unangenehmen und kränkenden Erlebnisse, dann tragen und vergessen Sie dieselben leichter. In Bezug auf diese Art Mitteilungen findet das Sprichwort: „Geteilter Schmerz ist halber Schmerz,“ seine volle Anwendung; sonst aber werden, wie die Erfahrung lehrt, schwierige häusliche Verhältnisse durch Besprechung mit einem unbeteiligtem Dritten nicht leichter, sondern gewöhnlich nur schwerer und verwickelter für uns gemacht. Es ist, als ob die kleinen täglichen Verdrießlichkeiten durch Besprechung oft eine bleibende Gestalt, eine Verkörperung gewönnen, während sie unbesprochen Eintagsfliegen gleich mit dem Tage verschwinden und wie Nebelgebilde in nichts zerfließen.“

Mir schien dieser Ausspruch meiner mütterlichen Freundin im ersten Augenblicke ein wenig unbarmherzig zu sein, bei ruhiger Überlegung jedoch musste ich ihr Recht geben, und später habe ich diesen Ausspruch durch Erfahrung und Beobachtung vielfach bestätigt gefunden, und auch er ist mir ein solches Samenkorn geworden, das mir in meinem Leben manche gesegnete Frucht getragen hat.


Schon einige Male hatte ich Mamsell Mühlenbrink gebeten, mir etwas aus ihre früheren Leben zu erzählen, was jedoch stets mit der Bemerkung, dieses später einmal tun zu wollen, von ihr war abgelehnt worden. Einst jedoch, da ich eines Gewitters wegen länger als gewöhnlich bei meiner mütterlichen Freundin verweilen durfte, sagte sie unaufgefordert zu mir:

„Heute will ich Ihre Bitte erfüllen und Ihnen etwas aus meinem Leben erzählen. Es ist keine Freude für mich, in meine Jugend zurückzublicken; aber das, was ich Ihnen zu erzählen habe, kann vielleicht Ihnen selbst, oder durch Sie auch anderen nützen, denn es zeigt in greller Beleuchtung, welche Folgen die Eitelkeit und Gefallsucht eines Mädchens haben kann. Und deshalb will ich Ihnen meine Erfahrungen nicht vorenthalten.

Mein Vater war ein höherer Verwaltungsbeamter in der Stadt D. Ich war neben vier Brüdern die einzige Tochter. Meine Eltern ließen mir eine feine, sorgfältige Erziehung geben; ich sah gut aus und war ihr Stolz. In Gesellschaften und auf Bällen ward ich gefeiert; das machte mich eitel und hochmütig und zog mein Herz immer mehr von dem Höheren ab.

Mehrere junge Männer bewarben sich um meine Hand; aber keiner war mir recht, ich wollte höher hinaus. Da lernte ich auf einem Balle einen jungen Husaren-Leutnant3 kennen, der durch seine Schönheit und ein einnehmendes Wesen mein Herz gewann. Nach kurzer Zeit verlobten wir uns. Meine Eltern waren mit der Partie wohl zufrieden, denn er gehörte einer angesehenen Familie an. Unsere Freunde meinten, ein passenderes Paar könne man sich gar nicht denken; wir seien wie für einander geschaffen. Wir selbst hielten unsere Liebe für unwandelbar und unser Glück daher für unzerstörbar. Dieser Wahn wurde uns jedoch schon nach wenigen Wochen zerstört. Neben der Liebe zu meinem Verlobten saß in meinem Herzen, mir selbst unbewusst, riesengroß die Eigenliebe und Eitelkeit. Es gewährte mir eine sündliche Freude, auch noch nach meiner Verlobung in Gesellschaften und auf Bällen der Mittelpunkt zu sein, um den ein Kreis junger Herren sich drehte. Mein Verlobter wollte natürlich diesem verwerflichen Spiel nicht ruhig zusehen. Er machte mir Vorstellungen; ich antwortete ihm neckend. Dies erzürnte ihn mit Recht noch mehr; er wurde heftig gegen mich, und ich zog mich beleidigt zurück. Zwar versöhnten wir uns wieder, aber es war keine Versöhnung vor dem Angesichte Gottes gewesen, und daher blieb ein Stachel in unser beider Herzen zurück, der uns reizbar machte. Kleine Reibereien kamen jetzt häufig vor. Zu größeren Zwistigkeiten ließen wir es nicht kommen, wir waren beide vorsichtiger geworden; aber das Leben unserer Liebe litt sichtlich trotz unserer Vorsicht. Das Vertrauen meines Verlobten zu meiner Liebe war wankend geworden; und ich hielt ihn für unbegründet eifersüchtig und klagte ihn in meinem Herzen der Tyrannei an. Im Verkehr mit anderen jungen Männern war ich jetzt sehr zurückhaltend, was mir von meinen Freundinnen manche kleine Neckerei eintrug, das Vertrauen meines Verlobten aber nicht wieder befestigte.

Unsere Hochzeit war auf den kommenden Frühling festgesetzt. Meine Eltern wünschten dieselbe zu beschleunigen, weil die meinten, nach derselben werde die Eifersucht meines Verlobten und meine eigene nervöse Gereiztheit schon von selbst verschwinden; ich selbst hoffte das Beste.

Vier Wochen vor dem angesetzten Hochzeitstage fand ein Maskenball statt, den wir besuchten. Einer meiner früheren Bewerber benutzte die so genannte Maskenfreiheit, um mir auffallende Aufmerksamkeit zu erzeigen, in der Absicht, meinen Verlobten, dessen leicht erregbares Temperament er kannte, zu reizen, was ihm leider nur allzu sehr gelang; denn mein Verlobter fühlte sich in seiner Ehre so sehr gekränkt, daß er glaubte, die ihm angetane Schmach nur in einem Zweikampf sühnen zu können. Das Duell fand am folgenden Tage statt. Mein Verlobter wurde von seinem Gegner tödlich getroffen; die Kugel war ihm mitten durchs Herz gegangen. Auf seinem Schreibtische fand sich ein Brief mit meiner Adresse, in welchem er mich als die Ursache seines Todes bezeichnete.

Konnte ich auch in Wahrheit sagen, daß ich an der äußeren Veranlassung des Duells keine Schuld trug, so hatte ich doch durch mein früheres leichtfertiges und unbedachtes Benehmen des Vertrauen meines Verlobten erschüttert und ihn selbst reizbar gemacht, und insofern musste ich mich allerdings als die Ursache seines Todes ansehen.

Ich hatte schwer für meinen Leichtsinn büßen müssen. Ich erkannte die ganze Größe meiner Sünde, und dies stürzte mich beinahe in Verzweiflung. Was hätte ich darum gegeben, wenn ich den geliebten Toten nur auf einige Augenblicke hätte sprechen können, nur um ihm mein Vergehen abzubitten und von ihm Verzeihung zu erhalten!

Von seinem Sarge war ich nicht fortzubringen. Zwei Tage und eine Nacht habe ich an demselben gesessen und geweint; aber ach, „Tränen machen nicht maiengrün, machen tote Liebe nicht wieder blühn!“ Am Beerdigungstage fiel ich in ein hitziges Fieber, daß mich an den Rand des Grabes brachte.

Endlich siegte die Jugendkraft, ich genas, wenn auch sehr langsam. Als ich zum ersten Mal wieder vor den Spiegel trat, schaute ein ganz unbekanntes Gesicht mir aus demselben entgegen. Die Krankheit und der brennende Seelenschmerz hatten mich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Mein Haar, und dessen Fülle und schöne braune Farbe ich stolz gewesen, war dünn und ergraut, meine Gesichtsfarbe hatte etwas Geisterhaftes, und aus den eingefallenen Zügen meines Antlitzes blickten ein Paar erloschene, glanzlose Augen unheimlich hervor. Ich erschrak dergestalt vor mir selbst, daß ich lange nicht zu bewegen war, wieder in den Spiegel zu blicken.

Mein Gemütszustand ängstigte die Meinigen, und der Arzt riet zu einer Luftveränderung; so wurde ich aufs Land in ein Pfarrhaus gebracht. Es waren brave, freundliche Leute, die sich meiner nach besten Kräften annahmen und mich zu erheitern und zu zerstreuen suchten. Was mich hätte trösten und aufrichten können, vermochten sie mir nicht zu geben, denn sie besaßen es nicht. Der Pastor, ein überaus wohlwollender Mann, gab mir, was er hatte, die trockene Speise einer wohl gemeinten Moral; ich aber brauchte etwas ganz anderes für meine verschmachtende, vom Schuldbewusstsein gemarterte Seele.

Er riet mir, mein Leben mit den Blumen mildtätiger Nächstenliebe zu schmücken; das werde mir eine angenehme Beschäftigung und Zerstreuung gewähren und meinem Leben neuen Reiz verleihen. Durch Werke der Liebe werde der quälende Geist in mir am ersten zur Ruhe gebracht werden.

Da auch ich nichts Besseres wußte, so befolgte ich seinen Rat. Ich ging in die Hütten der Armen, selbst eine viel Ärmere; ich kleidete die Nackten und speiste die Hungernden; ich labte die Kranken, und dabei lechzte meine von brennenden Gewissensqualen gefolterte Seele vergebens nach einem Tropfen Labung. Ich betrieb meine Liebestätigkeit mit einem fieberhaften Eifer, von einem Tage zum anderen auf die mir durch dieselbe in Aussicht gestellte Beruhigung meines Gewissens hoffend. Ich kam körperlich und geistig immer mehr herunter; ich fürchtete mich vor mir selbst. Die Tage waren noch zu ertragen, die Nächte aber mit ihrer Dunkelheit und Einsamkeit waren furchtbar.

Endlich, als ich selbst nichts mehr als den Abgrund der Verzweiflung vor mir sah, erbarmte der Herr sich meiner. Schon seit längerer Zeit hatte ich eine alte, blinde Frau besucht und ihr meine Gaben gebracht. Das leibliche Angesicht fehlte der armen Frau; dafür aber mussten die Augen ihres Geistes um so heller sein, denn sie sah weiter und tiefer, als wir alle. Sie erriet, was mir fehlte. Einst, als ich sie besuchte, sagte sie beim Abschied:

„Lesen Sie einmal, was geschrieben steht in 1. Johannes 1,7.“

Ich sah die alte Frau verwundert an, versprach aber, die bezeichnete Stelle lesen zu wollen. Zu Hause angekommen, bat ich sogleich den Pfarrer um eine Bibel, denn ich selbst besaß eine solche nicht. Der Pfarrer sah nun seinerseits mich verwundert an und reichte mir schweigend das heilige Buch. Ich ging auf mein Stübchen, schlug die bezeichnete Stelle auf und las: „Das Blut Jesu Christi, Seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde.“ Ich las die Stelle noch einmal mit lauter Stimme. Hatte ich denn diese Worte noch nie gehört? Ich las die Stelle wieder und wieder; es begann in meiner dunklen Seele zu tagen, es fiel mir wie Schuppen vor de Augen. Da stand es ja, daß auch ich noch rein gewaschen werden konnte von meiner schweren Schuld. Das Blut, welches alle Sünde hinweg nimmt, musste doch auch meine zu tilgen im Stande sein! O, warum hatte mir das bis jetzt Keiner, Keiner gesagt! Eine Zentnerlast fiel von meinem Herzen, und ich lebst sank auf meine Knie, mein Gesicht in den Händen verbergend. Ich weinte und schluchzte laut; ich hatte keinen anderen Ausdruck für die Empfindungen meines Herzens. Es zog ein Sturm durch meine Seele, gewaltig und erschütternd, aber segenbringend, denn er sprengte die Eisrinde, die sich um mein Herz gelegt hatte, und dieses Eis schmolz in de Strahlen einer bis dahin ungekannten Sonne und floß als ein Tränenstrom aus meinen Augen.

Wie lange ich gekniet und geweint, weiß ich nicht; später hat man mich ohnmächtig am Boden liegend gefunden und ins Bett gebracht. Abermals brach ein hitziges Fieber bei mir aus; diesmal aber minder heftig und minder anhaltend. Auch schritt die Genesung rasch vorwärts, denn es genas diesmal nicht der Körper allein, sondern zugleich auch die Seele. Als ich wieder lesen durfte, ließ ich mir abermals die Bibel reichen und las nun das ganze neue Testament von Anfang an: Ich daß einem Durstigen gleich an der Quelle und trank. Natürlich blieb mir noch manche Stelle der heiligen Schrift unverständlich; aber jedes Wort, das von Sündenvergebung redete, ließ ich direkt mir gesagt sein, und das war, was ich für den Augenblick brauchte.

Ich versuchte mit dem Pfarrer über das, was ich in der Bibel gelesen, zu sprechen; aber wir verstanden uns hierbei nicht, denn das, was ich als unverblümte, direkte Rede nahm, wollte er als biblische Darstellung, als Allegorie behandelt sehen. Auf diese Wege war also nichts für mich zu gewinnen; ich wartete daher, bis ich soweit hergestellt war, daß ich ausgehen durfte, und ging zu meiner blinden Freundin. Die verstand mich, die saß, selbst eine Maria, zu des Herrn Füßen4 und ließ jedes Wort Seines Mundes sich gesagt sein.

Ich erzählte ihr, was mich so schwer drückte,und sie tröstete und labte mich mit Worten der heiligen Schrift. Ich saß oft stundenlang bei ihr, und die arme blinde Frau zeigte mir, der Sehenden, immer deutlicher und bestimmter den Weg des Heils und des Lebens. Sie ist in Gottes Hand das Werkzeug geworden, meine Seele zu retten.

Eine solche Bibelkenntnis, wie jene alte blinde Frau besaß, ist mir nie wieder vorgekommen; das neue Testament wußte sie nahezu auswendig. Einst, als ich ihr hierüber meine Verwunderung aussprach, sagte sie: „Was sollte wohl aus mir armen Frau in der Nacht der Blindheit geworden sein, wenn ich dies gesegnete Licht nicht gehabt hätte!“

Ein Vierteljahr noch blieb ich im Pfarrhause; dass kehrte ich, an Seele und Leib genesen, zu meinen Eltern zurück. Obgleich ich nun nach und nach so ziemlich mein früheres Aussehen wieder erlangte, so blieb doch mein Haar teilweise ergraut. Dies kümmerte mich indes wenig, denn die Schlacken der Eitelkeit und Gefallsucht waren in dem Feuer einer aufrichtigen Buße verbrannt. Ich hatte mir jetzt ein höheres Ziel gesteckt; gefallen wollte ich auch jetzt noch, aber nicht Menschen, sondern meinem Gott, und das konnte ich mit ergrautem Haar ebensowohl, wie im kastanienbraunen.

Nach einigen Jahren führte mein ältester Bruder einen Studienfreund, der seit kurzem Pfarrer in einem benachbarten Dorfe war, in unser Haus ein. Gleich bei unserem ersten Begegnen machte derselbe einen tiefen Eindruck auf mich; aber dieser Eindruck war sehr verschieden von dem, welchen früher wohl einzelne Männer auf mich gemacht hatten. Ein großer Ernst lag in der Persönlichkeit dieses Mannes, ein Ernst, dem ich es anfühlte, das er demselben Boden entsprungen, auf welchem mir neuer Lebensmut und neue Lebensfreudigkeit erwachsen war.

Er schien sich in unserem Hause wohl zu fühlen, denn er wiederholte seinen Besuch, und bald verging keine Woche, in welcher er nicht für einen Abend unser Gast war. Meine Eltern sahen sein Kommen nicht ungern, sie freuten sich über das Interesse, welches seine Unterhaltung mir einflößte, und dachten vielleicht auch an die Möglichkeit einer späteren Verbindung zwischen uns.

Ich selbst machte mir eine solche Möglichkeit nicht klar, mir genügte die Gegenwart. Von einer Woche zur anderen freute ich mich auf sein Kommen. Seine Unterhaltung war sehr verschieden von der andrer junger Männer. Bei ihm fand ich Verständnis meiner heiligsten Interessen, und die mit ihm geführten Gespräche beschäftigten mich für die übrigen Tage der Woche. So verging ein Jahr; da sollte mir dies Glück genommen werden.

Schon seit längerer Zeit hatte ich an unserem Hausfreunde ein in sich gekehrtes, zerstreutes Wesen wahrgenommen. Einst kam er, als ich allein zu Hause war. Es war an einem Sonntag-Nachmittage. Ich führte ihn in das Empfangszimmer und setzte mich mit einer leichten Handarbeit ans Fenster; er nahm mir gegenüber Platz.

Hier hatten wir schon oft zusammen gesessen, und manches interessante, tiefer gehende Gespräch war hier zwischen uns geführt worden. Heute aber stockte unsere Unterhaltung fortwährend. Er war zerstreut und unruhig, und das machte mich befangen und wortkarg. Plötzlich sprang er auf und gestand mir seine Liebe; er sprach herzlich, ja beinahe bittend, und seine treuen, klaren Augen ruhten mit unbeschreiblicher Innigkeit auf mir. Mein Herz erbebte, denn in diesem Augenblicke ward es mir klar, daß auch ich ihn liebe, und nur ihn allein geliebt habe. Er streckte mit seine Hand entgegen; ich aber bedeckte mein Gesicht mit beiden Händen und weinte; denn nicht minder klar wie meine Liebe ward mir die Überzeugung, daß ich meine Hand nie nach einem Glück, wie das dargebotene, ausstrecken dürfte. Er missverstand mein Benehmen und bat um Verzeihung, wenn er mich durch seine stürmische Erklärung erschreckt oder beleidigt habe.

Da sagte ich ihm alles; ich ließ ihn einen Blick in mein Herz tun und verhehlte ihm meine innige, warme Liebe zu ihm nicht; sagte ihm aber auch zugleich, daß ich durch meinen früheren Leichtsinn und dessen traurige Folgen das Recht auf irdisches Liebesglück verwirkt habe, und das mein Herz nur in Entsagung sich seinen Frieden werde bewahren können.

Er versuchte meine Gründe zu widerlegen, musste mir aber doch nach einigen Erörterungen Recht geben. Als er schied, waren wir beide sehr traurig; ich weinte und auch in seinen Augen standen Tränen.

Meine Eltern begriffen meine Entsagungsgründe nicht, ließen mir aber meinen Willen. Es ist mir nicht leicht geworden, dem dargebotenen Liebesglück auf immer zu entsagen; denn dort im stillen ländlichen Pfarrhause, an der Seite eines geliebten Mannes, der mit mir dem gleichen Ziel zustrebte, hätte ich die Erfüllung aller meiner Wünsche gefunden, aber dennoch bin ich auch später keinen Augenblick wankend geworden, ob ich auch das Rechte getan. Obgleich noch mancher Scherz dieserhalb durch meine Seele gezogen ist, so blieb mir doch, Gott sei Dank, mein fernerer Lebensweg stets klar vorgezeichnet, und dieser hieß „Entsagung“.

Mamsell Mühlenbrink schwieg und blickte sinnend vor sich hin. Ich wagte nicht die Stille zu unterbrechen. Das Gehörte hatte mich tief ergriffen; meine mütterliche Freundin bemerkte es und sagte:

„Danken Sie Gott, liebe Cornelia, daß Sie schon so früh Sein heiliges Wort und das Gebet kennen gelernt haben; denn allein das Wort Gottes und der persönliche lebendige Gebetsverkehr mit unserem Heilande vermögen uns vor den Irrwegen der Jugend, wie vor denen des übrigen ganzen Lebens zu bewahren. Der Sänger des 119. Psalms wußte dieses, darum bekennt er lobpreisend: „Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege;“ und bittet zugleich: „Wende von mir den falschen Weg und gönne mir Dein Gesetz. Zeige mir, Herr, den Weg deiner Rechte, daß ich sie bewahre bis ans Ende!“

Dann fügte sie hinzu: „Mein übriges Leben lässt sich mit wenigen Strichen zeichnen. Nach jener Unterredung mit unserem Freunde reiste ich zu einer entfernt wohnenden Cousine. Dieselbe war brustleidend und sollte den Winter im Süden zubringen. Sie ging nach Italien, und ich begleitete sie. Wir blieben zwei Jahre dort, dann starb meine Cousine. Nachdem ich einen Rosenstrauch auf ihr Grab gepflanzt, kehrte ich in die Heimat zurück. Hier fand ich manches verändert. Mein ältester Bruder hatte sich verheiratet und zwar mit der Schwester unseres Freundes. Auch dieser war verheiratet. Ich habe ihn nicht wiedergesehen, sein Glück aber auf betendem Herzen getragen. Seine Ehe blieb kinderlos; jetzt ist er schon lange daheim.

Die Ehe meines Bruders dauerte nur wenige Jahre. Er und seine Frau starben binnen acht Tagen am Nervenfieber. Sie hinterließen ein Söhnlein von vier Jahren. Kurz vor seinem Ende, in einem lichten Augenblicke, übergab mir mein Bruder sein Kind mit den Worten: „Liebe Schwester, sei Du fortan unserm Kind Vater und Mutter!“ Es hätte wohl kaum dieser Bitte bedurft, denn mein ganzes Herz hing an diesem Kinde; aber es war mir lieb, neben dem Recht jetzt auch die Pflicht zu haben, für dasselbe zu sorgen.

So lange meine Eltern lebten, wohnte ich mit meinem kleinen Neffen bei ihnen. Nach ihrem Tode kaufte ich dies Haus und zog hierher.

Es war mein Wunsch, mein Neffe möchte Theologie studieren; ihn aber zog es unwiderstehlich nach dem Meere. Er wurde Seemann. Als er Kapitän geworden, verheiratete er sich; doch auch sein häusliches Glück war von kurzer Dauer. Seine Frau starb bald nach Angelikas Geburt. Ich nahm die Kleine zu mir; sie ist meine Freude und meine Unterhaltung. Durch ihr fröhliches Lachen und ihre kindlichen Einfälle ist auch äußerlich wieder Sonnenschein in meine stille Wohnung eingekehrt.“

Es war die höchste Zeit für mich aufzubrechen. Ich stand auf reichte meiner mütterlichen Freundin zum Abschied die Hand; sie aber schloss mich in ihre Arme und küsste mich. Es war dies dies der erste Kuss, den sie mir gab; derselbe erfreute mich unbeschreiblich, denn ich fühlte ihm an, daß diejenige, die ihm gab, mir wahrhaft mütterlich zugetan war.

Um schneller vorwärts zu kommen, nahm ich Minörken auf den Arm und eilte geflügelten Schrittes nach Hause. Unterwegs betete meine Seele: „Herr, lass mich nicht zu spät kommen!“ Ich kam auch nicht zu spät, denn meine Herrin schlief noch, obgleich es schon ein Viertel nach drei Uhr war. Ich lauschte an der Stubentür, bis ich das Gähnen hörte, womit sie ihr Erwachen anzukündigen pflegte, dann ging ich zu ihr. Sie sah mich mit einem Blicke an, in welchem ein Anflug von Wohlwollen lag, und sagte: „Es freut mich, Mamsell Nelly, daß Sie pünktlich sind, ich hasse nichts so sehr wie Unpünktlichkeit.“


1)  Lukas 12,48

2)  Offenbarung 21,3

3)  Leutnant in der leichten Kavallerie

4)  Lukas 10,38-42


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