Licht von Oben - Buchdeckel

Meine Herrin zahlt den letzten Tribut, und ich setze meinen Wanderstab weiter

Am Sonntage Misericordias Domini1 lag meine Herrin im Sterben. Der Arzt, welchen Lotte vor vierzehn Tagen ohne Wissen meiner Herrin geholt hatte, verließ heute achselzuckend das Krankenzimmer, indem er zu mir sagte: „Hier hat die ärztliche Wissenschaft ihr Ende erreicht, denn gegen den Tod ist kein Kraut gewachsen.“ Lotte, die sich seit einigen Wochen mit mir die Krankenpflege geteilt hatte, und gerade im Zimmer anwesend war, flüsterte mir hierauf zu, daß sie in ihrem Leben viele Hühner und Enten habe sterben sehen, einen Menschen aber könne sie nicht sterben sehen, und verließ eiligst das Gemach.

So befand ich mich denn mit der Sterbenden allein, was mir sehr lieb war; denn ich hatte Gott schon oft um die Gnade gebeten, meiner Herrin im letzten Augenblicke das noch einmal nahe bringen zu dürfen, wovon sie im Leben nie etwas hatte hören wollen.

Meine Herrin lag in Betten auf dem Sofa; in den Federberg war sie schon seit vierzehn Tagen nicht mehr gekommen, weil sie nicht mehr im Stande gewesen, die kleine Trittleiter zu ersteigen, und weil sie es für unmöglich hielt, daß ein Teil der Kissen aus dem Bett entfernt würde, um demselben eine für sie ersteigbare Höhe zu geben.

Nachdem Lotte gegangen, und ich der Kranken aufs neue die Kissen in Ordnung gebracht – denn von innerer Angst und Unruhe getrieben, warf sich die Sterbende beständig hin und her – setzte ich mich an ihr Lager und las langsam und laut den Gesang:

„Wer weiß, wie nahe mir mein Ende!
Hin geht die Zeit, es kommt der Tod.
Ach wie geschwinde, wie behende
Kann kommen meine Todesnot!
Mein Gott, ich bitt durch Christi Blut,
Mach's nur mit meinem Ende gut!“2

Ich las den ganzen Gesang, dann stand ich auf, beugte mich über die Sterbende und fragte, ob sie gehört habe was ich gelesen. Sie nickte; gesprochen hatte sie schon den ganzen Tag nicht mehr. Ich dankte Gott, daß sie kein Zeichen der Abneigung gegen das Gelesene an den Tag gelegt und fuhr nun mit Unterbrechungen fort, ihr noch mehr Sterbegesänge und Sterbegebete vorzulesen.

Die Sterbende stöhnte oft laut, wurde aber doch unter dem Lesen allmählich ruhiger. Der Tod kam sichtlich näher, Hände und Füße waren bereits eiskalt und konnten weder durch Reiben, noch durch warme Tücher mehr erwärmt werden.

Ich hatte ihr wieder die Kissen zurecht gelegt und ihr ein wenig Wein eingeflößt, da öffnete sie die Augen, sah mich an, hob mühsam ihre schon im Tode erstarrte Hand und strich mit derselben über mein Gesicht. Es war dies die erste und letzte Liebkosung, welche mir von meiner Herrin zu Teil geworden ist. Die Berührung meines Gesichts mit der eiskalten Totenhand machte mich schaudern, und doch beglückte dieses Zeichen der Anerkennung und Zuneigung mich im tiefsten Herzen. Ich hätte vor Freuden laut weinen mögen, denn ich sah in dieser Handlung der Sterbenden ihre Zustimmung zu dem eben Gehörten ausgedrückt.

Ich blieb nun an ihrem Lager stehen, faltete meine Hände und betete laut und frei aus dem Herzen. Ich bat Gott, doch auch dieser armen Seele gnädig sein zu wollen,um des Leidens und Sterbens Seines Sohnes, unseres hochgelobten Heilandes willen, der auch für sie Sein teures Blut vergossen. Ich bat, diese arme Seele jetzt im letzten Augenblicke frei zu machen von den Fesseln, mit denen Satan sie ihr Leben lang gebunden gehalten, und ihr noch einmal Seine Gnadenhand entgegen zu strecken, die sie jetzt gewiß nicht zurückweisen werde, und sie an Seiner allmächtigen Hand durch das dunkle Todestal und das Heer der bösen Geister hindurch zu führen.

Ich betete lange, denn es war mir, als müsse ich der scheidenden Seele mit meinem Gebete das Geleit geben. Ich betete, bis ein heftiges Zucken der Sterbenden mich aufmerksam machte; ich blickte ihr in das Gesicht; der Geist war entflohen, die irdische Hülle allein lag vor mir.

Nun sank ich auf meine Knie nieder und bat Gott noch einmal um Gnade und Frieden für die Entschlafene; dann suchte ich Lotte auf. Ich fand sie in der Küche eifrig nähend.

„Lotte, unsere Herrin ist tot!“

Die Angeredete blickte von ihrer Arbeit auf und sagte: „Ist sie?“ Dann mit einem Zipfel ihrer Schürze sich über die Augen fahrend, fuhr sie weinerlich fort: „Ich arme alte Person! Was soll jetzt aus mir werden? Sechsunddreißig Jahre habe ich in diesem Hause gedient und muss jetzt wieder auf die Straße und mir ein Obdach suchen; denn vermacht wird sie uns nichts haben, sie war zu geizig: Jetzt bekommen lachende Erben ihr Vermögen; mitnehmen hat sie es nicht können, das hätte sie sonst am liebsten getan; und wir, Mamsell Nelly, haben das Nachsehen, das reine Nachsehen, es ist zu hart!“

Lotte weinte. Ich suchte sie zu trösten, indem ich sagte: „Lotte, hat unsere Herrin uns auch nichts vermacht, so wird unser Herrgott im Himmel uns doch nicht verlassen; und das ist die Hauptsache. Und jetzt, Lotte,“ fuhr ich fort, „müssen Sie gleich einmal auf die Straße und bei dem Stadtgerichte Anzeige von dem Tode unserer Herrin machen und dann die Totenfrau holen.“

Sobald es Arbeit für sie gab, die nach ihrer Meinung von keinem Anderen verrichtet werden konnte, war Lotte in ihrem Elemente. Hastig sprang sie auf, trocknete ihre Tränen, schlug ein Tuch um die Schultern und verließ das Haus, vor sich hinmurmelnd: „Daß ich daran auch nicht von selbst gedacht habe!“

Ich kehrte in die Stube zurück und setzte mich erschöpft in den Lehnstuhl meiner toten Herrin. Erst jetzt, da die Anspannung nachließ, fühlte ich, wie sehr die Krankenpflege und die Nachtwachen der letzten Zeit mich angegriffen hatten. Ich schlief ein und erwachte erst, als Lotte mit der Totenfrau zurückkehrte.

Noch vor Abend kam auch ein Herr vom Stadtgericht und belegte alle Schränke und Kommoden mit großen Siegeln.

Die Tage bis zur Beerdigung verflossen still. Nur Wenige fanden sich ein, um der Verstorbenen das letzte Geleit zu geben; von den auswärts wohnenden Erben war keiner erschienen. Lotte und ich hatten Kränze gewunden, von ihren Bekannten schickten nur zwei einen Kranz, denn auch bei ihren sogenannten Freundinnen war meine Herrin wenig beliebt gewesen.

Vierzehn Tage später kamen die Erben. Es waren zwei Neffen der Verstorbenen mit ihren Frauen. Da habe ich zum ersten Male lachende Erben gesehen.

Der Herr vom Stadtgericht kam auch wieder und löste die Siegel.

Nun wurden alle Schränke, Koffer und Kommoden aufgeschlossen un der Inhalt derselben geprüft. Alle vier waren erstaunt und erfreut über die Menge und Güte der Leinen- und Silbersachen, welche sie vorfanden.

„Wo aber mag die Alte ihre eigentlichen Schätze verborgen haben?“ fragte am Schluß der Musterung einer der Neffen.

Ich holte den eisenbeschlagenen Kasten unter dem Bett hervor. Er wurde geöffnet, man entfaltete die darin befindlichen Obligationen, und die freudige Überraschung der glücklichen Erben erneuerte sich.

„Solche Schätze also,“ rief der andere Neffe, „hat die Alte im Laufe der Jahre aufgespeichert! Nicht übel für uns! Hätte sie ihre Todesfurcht so weit überwinden können, ein Testament zu machen, sie würde uns nicht so viel hinterlassen haben.“

„Ihre Todesfurcht muss in der Tat groß gewesen sein,“ sagte seine Frau, welche ein sanftes, stilles Gesicht hatte, „da sie nach ihrem eigenen Ausspruch euch, ihre Neffen, deshalb nicht hat sehen mögen, weil sie durch den Anblick ihrer demnächstigen Erben zu sehr an ihren Tod würde erinnert worden sein.“

Hierauf traten alle vier in eine Fensternische und sprachen leise mit einander. Ich ging hinaus. Nach einer Weile wurde ich ins Zimmer gerufen, und man fragte mich, wie lange ich bei der Verstorbenen gewesen sei und wie lange Lotte in deren Dienst gestanden habe.

Nachdem ich hierüber Auskunft gegeben, überreichte mir der älteste Herr Mummel eine Hunderttaler-Rolle und bat mich, dieselbe als ein Zeichen ihrer Anerkennung für meine Pflege der alten Tante anzunehmen.

Lotte erhielt die gleiche Summe und außerdem ein Bett, den Lehnstuhl der Verstorbenen, einen Schrank, einen Tisch, eine Kommode und mehrere Stühle. Als Lotte diesen unerwarteten Anteil an der Erbschaft erfuhr, griff sie wieder nach dem Zipfel ihrer Schürze; sie weinte, aber diesmal waren es stille, wohltuende Freudentränen, die sie vergoß. Nachdem sie den Herrschaften ihren Dank ausgesprochen hatte, reichte sie mir die Hand und sagte in einem weinerlichen Tone: „Sie haben Recht, Mamsell Nelly, der liebe Gott hat auch mich arme, alte Person nicht ganz vergessen. Nun ziehe ich zu meiner Nichte, die hat eine kleine Kammer leer stehen, und für das was ich jetzt besitze, kann sie mich schon zu Tode pflegen.“

Die Garderobe der Verstorbenen wurde gleichfalls zwischen Lotte und mir geteilt und zwar so, daß ich die besseren, Lotte die Hauskleider bekam. Auch wir hatten also wieder Erwarten unsern reichen Anteil an der Erbschaft.

Silbersachen und Leinenzeug teilten die beiden Erben unter sich, und es ging bei dieser Teilung friedlich und lustig her; man sah, daß sie keinen allzugroßen Wert auf diese Sachen legten. Die Möbel dagegen sollten sämtlich verkauft werden. „Die sind zu altmodisch und passen nicht in unsere Einrichtungen,“ sagten sie.

Am anderen Tage reisten drei von der Gesellschaft wieder ab;die Frau mir dem freundlichen stillen Gesicht blieb, um die Auktion, welche nach ungefähr acht Tagen stattfinden sollte, zu leiten. In diesen acht Tagen lernte ich die Frau, deren Gesicht mir gleich beim ersten Begegnen so sehr gefallen, näher kennen und habe sie wahrhaft lieb gewonnen. Einmal gingen wir auch zusammen nach dem Friedhofe und legten einen frischen Kranz auf das Grab der alten Mamsell Mummel. Das wird wohl der letzte Kranz gewesen sein, der auf dies einsame Grab niedergelegt worden ist.

Obgleich der Auktionstag mit seiner Unruhe und Arbeit wenig geeignet war, Betrachtungen anzustellen, so konnte ich mich doch eines wehmütigen Gefühls nicht erwehren, als ich so ein Stück nach dem andern unter den Hammer des Auktionators kommen und dann zum Hause hinauswandern sah. Ich gedachte dabei an das Wort des Herrn, welches er bei St. Lukas im 12. Kapitel spricht: „Und wes wird es sein, das du bereitet hast? Also geht es, wer sich Schätzte sammelt und ist nicht reich in Gott.“

Als die große Wanduhr versteigert wurde, war es zwölf Uhr. Mein Freund, der Kuckuck, erschien, machte der Versammlung seine Verbeugungen und rief – zum letzten Mal in diesem Hause – die Stunde. Alle lachten, ich aber musste mich abwenden, denn ich fühlte, wie Tränen meine Augen füllten. Hernach kam Frau Mummel zu mir, legte ihre beiden Hände auf meine Schultern, sah mich mit ihren stillen, klaren Augen an und sagte: „Ich glaube, Sie haben die alte Tante trotz ihrer Wunderlichkeit doch lieb gehabt!“ Ich erwiderte: „Ja, das glaube ich auch.“

Am Abend, als das Haus völlig ausgeräumt war, und Alle – auch Lotte mit ihren Sachen – dasselbe verlassen hatten, ging ich noch einmal durch alle Räume und nahm Abschied von denselben. Unheimlich hallte es wieder von den kalten Wänden; es war ein Klagelied der leeren Räume auf die Vergänglichkeit alles Irdischen.

Ich stieg auch noch einmal hinauf zu meinem Dachkämmerchen; das war mir der liebste Ort im ganzen Hause gewesen. Hier hatte ich viele schöne, glückliche, gesegnete Stunden verlebt, hier hatte ich die Kämpfe mit meinem natürlichen Menschen ausgefochten. Ich kniete nieder, dankte Gott noch einmal für alle Gnade und Barmherzigkeit, welche Er mir in diesem Hause täglich so reichlich hatte widerfahren lassen, bat Ihn noch einmal um Vergebung alles dessen, das ich je und je hier gefehlt, und befahl meine Zukunft Seinen treuen Händen. Dann stand ich auf und blickte noch einmal – zum letzten Mal – durch das Dachfenster zum Abendhimmel empor; rötliche Wolken, von der scheidenden Sonne vergoldet, zogen vorüber, und schienen mir Grüße zuzuwinken. Es war ein freundliches, liebliches Bild, das ich aus dem alten düstern Hause mitnahm.

Ich ging nach dem Gasthause, in welchem Frau Mummel für die Nacht Quartier genommen hatte, um ihr Lebewohl zu sagen, denn sie musste am anderen Morgen sehr früh abreisen. Unser Abschied war herzlich. Ich habe sie nicht wieder gesehen, auch nie von ihr gehört; aber ihr Mann steht auf einem lichten Blatt in meiner Erinnerung, und ich freue mich auf das Wiedersehen im ewigen Licht!

Die Erinnerung nämlich kommt mir vor, wie ein Buch mit vielen, vielen Blättern. Die meisten dieser Blätter sind grau; auf diesen stehen, ebenfalls mit grauer Farbe, so daß sich dieselbe kaum bemerkbar vom Grunde abhebt, die Namen aller derjenigen unserer Bekannten verzeichnet, welche weder für unser äußeres noch inneres Leben von Bedeutung gewesen,welche also gleichsam spurlos an uns vorüber gegangen sind. Hin und wieder zwischen den grauen Blättern befinden sich einzelne Blätter von entweder schwarzer oder doch sehr dunkler Farbe; auf diesen stehen in weißer Schrift – und dieselbe hebt sich kalt und starr von de dunklen Grunde ab – die Namen derjenigen, welche feindlich und zerstörend in unser Leben eingegriffen, die uns tief weh getan haben, und an die wir denken müssen, wenn wir die fünfte Bitte des Vaterunsers3 beten. Aber zwischen diesen grauen und schwarzen Blättern befinden sich auch viele von lichter Farbe, rötlich, grünlich oder bläulich angehaucht, und auf diesen stehen in leuchtender, goldener Schrift die Namen aller, auf deren Wiedersehen im ewigen Leben wir hoffen und uns freuen.


Nach dem Abschied von Frau Mummel wanderte ich zum Tore hinaus den Weg, den ich mit und ohne Minörken so unzählige Male gemacht hatte, dem stillen, friedlichen Häuschen zu. Angelika stand am Fenster und schien nach mir auszusehen. Laut jubelnd sprang sie mir entgegen und warf sich in meine Arme. Ich küßte das liebe Kind. Ihr Name steht auch auf einem lichten Blatte in meiner Erinnerung verzeichnet und leuchtet vorzüglich hell und freundlich.

Meine mütterliche Freundin empfing mich mit besonderer Herzlichkeit, aber eine tiefe Bewegung lag auf ihrem lieben Gesichte. Ich sollte bis zum Dienstag nach Trinitatis4 bei ihr bleiben und dann eine neue Stelle antreten. Diese hatte sich durch die treue Fürsorge unseres gnädigen Gottes sehr rasch und ohne mein Zutun gefunden. Ein Verwandter meiner mütterlichen Freundin aus Hamburg hatte dieselbe auf einer Geschäftsreise besucht und – zufällig, wie man es nennt – von mir gehört. Nach ungefähr acht Tagen kam aus Hamburg von einem Geschäftsfreunde jenes Verwandten, dem Kaufherrn Greifmüller, die Anfrage an mich, ob ich geneigt sei, eine Stelle in seinem Hause zur Hilfe seiner kränklichen Frau anzunehmen. Ich sah hierin eine Fingerzeig Gottes, bedachte mich daher nicht lange, sondern nahm die Stelle an. Die Bedingungen waren günstig: Zugehörigkeit zur Familie und sechzig Taler Gehalt. Das war für mich ein großer Sprung von vierundzwanzig auf sechzig Taler; ich war hierüber sehr erfreut. Was würde ich künftig nicht für meine alten Tage zurücklegen können! Hatte ich mir doch – so unglaublich dies auch den jungen Mädchen von heute klingen mag – von vierundzwanzig Talern jährlichen Gehalts in den sechs Jahren zwanzig Taler erübrigt.


Die Wochen bis zum Sonntage Trinitatis waren für mich köstlich, stärkend und erquickend für Seele und Leib; ich zählte sie zu den glücklichsten meines ganzen Lebens. Äußerlich waren sie ruhiger, wenngleich emsiger Handarbeit gewidmet. Ich musste meine Garderobe für meine neue Stellung in Stand setzen, und hierbei kam mir die Erbschaft an Leibwäsche und sonstigen Kleidungsstücken trefflich zu statten.

Die damaligen Moden waren im Vergleich mit den jetzigen äußerst einfach, und obgleich es damals noch keine Nähmaschinen gab, so ließ sich doch ein Kleid sehr bequem einer Person in zwei Tagen anfertigen. Zu Pfingsten war ich mit meiner ganzen Ausstattung fertig und konnte nun die letzten acht Tage ganz nach meinem Gefallen verleben.

Solche Zeiten gänzlicher Freiheit und völliger Pflichtentbehrung sind mir in meinem Leben nicht oft geworden, und deshalb habe ich sie stets mit besonders großer Freude und einem innigen Behagen genossen. So lange wir auf Erden pilgern, trägt auch unser Geistesleben den Stempel des Diesseits, der Vergänglichkeit. Jedes Ding hier nutzt sich durch Gebrauch allmählich ab, und deshalb verliert auch eine Empfindung durch allzu häufige Wiederkehr an Tiefe und Frische. Daher kommt es, daß diejenigen Menschen, bei welchen die Freude sozusagen zum täglichen Brot gehört, sich zuletzt nur noch ganz oberflächlich, ja kaum noch über etwas freuen können, während die Freude bei denen, welchen sie sparsamer zugemessen wird, bis auf den Grund des Herzens zu gehen pflegt und den ganzen Menschen bewegt. „Sich freuen wie ein Kind,“ ist eine sprichwörtliche Redensart, aber nur wenige Erwachsene wissen sich diese Kunst zu bewahren; und doch ist es so schön, sich so recaht von Herzensgrund freuen zu können.

Als meine Ausstattung fertig war, ergab es sich, daß der kleine Koffer, in welchem ich vor sechs Jahren meine wenigen Habseligkeiten mit mir geführt hatte, bei weitem nicht im Stande war, mein gegenwärtiges Besitztum zu fassen. Ich geriet in Verlegenheit; meine mütterliche Freundin aber forderte mich lächelnd auf, sie auf den Boden zu begleiten. Hier standen nebeneinander mehrere schöne, messingbeschlagene Koffer, von denen wählte sie einen aus und schenkte ihn mir.

Ich war über dieses Geschenk ungemein erfreut; in diesem Koffer fanden jedenfalls alle meine Sachen vollkommen Platz. Mein kleiner Koffer war mithin überflüssig geworden, aber doch vermochte ich nicht, mich von ihm zu trennen; er war zu sehr mit meinen Erinnerungen an meine Kindheit und das teure Elternhaus, das nun nicht mehr für mich bestand, verwachsen. Ich sagte dies meiner mütterlichen Freundin, worauf dieselbe, mir erwiderte: „Den kleinen Koffer müssen Sie behalten, denn von Gegenständen, an die ein Stück unseres Lebens sich knüpft, dürfen wir uns ohne Not nicht trennen; das hieße ja mit einem ganzen Stück Vergangenheit brechen. Alle Möbel, welche Sie in meinem Zimmer sehen, sind mit mir alt geworden, und die Erinnerung meines Lebens ist mit ihnen verwachsen. Es würde mir sehr schwer werden, mich von ihnen zu trennen. In einsamen Stunden sind sie mir eine angenehme und anregende Gesellschaft, den ihr Anblick leitet mich zurück in die Vergangenheit und führt ganze Lebensabschnitte an meinem Geiste vorüber. Viele unter ihnen entstammen meinem elterlichen, einige sogar meinem großelterlichen Hause. Ganz unverständlich sind mir diejenigen Menschen, welche es über sich vermögen, die Möbel mit denen sie dreißig bis vierzig Jahre zusammen gelebt haben, gegen neue zu vertauschen, nur weil dieselben nicht mehr modern und elegant genug sind.“ An diese Worte meiner mütterlichen Freundin habe ich später in meinem Leben oft denken müssen.

Der Tag des Abschieds kam schnell, für mich natürlich viel zu schnell heran. Die Trennung von den lieben Menschen wurde mir sehr schwer; es war mir, als verließe ich meine zweite Heimat.

Meine Sachen waren schon einige Tage vorher als Fracht befördert worden; ich selbst sollte mit der Post reisen. Dieselbe fuhr an unserem Hause vorbei, und der Postillon hatte sich bereit erklärt, einen Augenblick anzuhalten, um mich einsteigen zu lassen.

Um mir das Herannahen der Post anzuzeigen, blies der Postillon ein lustiges Stück, das mir aber wie Grabgeläute klang. Mit diesem Abschied ward ja ein zweiter und für mich bedeutungsvoller Lebensabschnitt in das Grab der Vergangenheit gesenkt.

Als ich im Postwagen saß, blickte ich noch einmal nach dem stillen Häuschen, meine mütterliche Freudin stand am Fenster und winkte mir den letzten Scheidegruß zu; die kleine Angelika, welche vor ihr auf der Fensterbank kniete, warf mir Kusshände nach. Das ist das letzte Bild, welches ich von ihnen habe; es steht noch jetzt, nach mehr denn vierzig Jahren, lebhaft in meiner Erinnerung.

Meine mütterliche Freundin starb zwei Jahre nach Angelika. Der Kapitän zeigte mir ihren Tod an; ich habe den Brief noch, er atmet die reinste Verehrung für die Verstorbene. Zugleich teilte er mir mit, daß seine Tante mir den Koffer voll Leinenzeug und fünfhundert Taler bares Geld vermacht habe. Dieses Vermächtnis hat wesentlich dazu beigetragen, mir ein sorgenfreies Alter zu verschaffen.

Meine Postreise nach Hamburg war bei den damaligen schlechten Fahrstraßen sehr beschwerlich und nahm mehrere Tage in Anspruch. Am Abend des dritten Tages endlich fuhren wir, nachdem die hohen Türme schon seit länger denn einer Stunde sichtbar waren, durch das Stadttor.

Der Postwagen hielt vor einem Gasthofe an. Ich ordnete dort meinen Anzug ein wenig, ließ mir die Straßen bezeichnen, die ich durchwandern musste, um nach dem Hause des Herrn Greifmüller zu gelangen, und machte mich dann mit meinem Handgepäck auf den Weg. Unwillkürlich musste ich an meinen ersten Ausflug vor sechs Jahren denken und einen Vergleich anstellen. Auch jetzt wanderte ich wie damals einsam einer ungewissen Zukunft entgegen, aber doch unter wesentlich günstigeren Umständen. Ich war älter geworden, hatte meine Kräfte erprobt, und die Welt war mir nicht mehr so unbekannt wie damals, und deshalb spürte ich, klopfte auch mein Herz etwas lauter und rascher, als gewöhnlich, doch, Gott sei Dank, nichts von der namenlosen Traurigkeit und Angst in mir, welche vor sechs Jahren, als ich mit meinem kleinen Koffer vor dem alten, düsteren Hause stand, meine Seele erfüllten.

Das Haus des Herrn Greifmüller ward ohne Schwierigkeit von mir gefunden. Es war ein großes, stattliches, noch neues Gebäude.

Auf mein Schellen öffnete ein Diener die Haustür. Ich gab mich zu erkennen und wurde darauf von einem Dienstmädchen drei Treppen hoch in mein künftiges Zimmer geführt. Auf dem Wege dahin erzählte sie mir, daß „die Herrschaft!“ im Theater sei, und das ich „der Madame“ erst am folgenden Morgen mich werde vorstellen können. Sie schloß das Zimmer auf und entfernte sich mit der Bemerkung, mir in einer halben Stunde mein Abendbrot bringen zu wollen.

Ich war allein. Erwartungsvoll ließ ich den Blick durch das Gemach schweifen, welches künftig mein Privataufenthalt und mein Separatheiligtum sein sollte, und war auf das Angenehmste überrascht durch die freundliche und komfortable Einrichtung desselben. Es befand sich hier ein Gardinenbrett, ein kleines Bücherbrett und sogar ein Sofa mit einem Tischchen davor, über welches eine rote Decke gebreitet lag. Und wie ein Gruß aus der Heimat standen in einer Ecke des Zimmers meine beiden Koffer, welche vor mir angelangt waren. Ich hätte bei ihrem Anblick laut jauchzen mögen, denn sie sahen mich hier in der Fremde wie zwei liebe alte Bekannte an.

Es war ein eigentümliches Gemisch von Gefühlen, welches in diesem Augenblicke meine Seele durchwogte; die verschiedenartigsten Empfindungen kämpften mit einander. Auf der einen Seite war es der noch nachklingende Abschiedsschmerz, das Unbehagliche einer neuen, ungewohnten Situation und die unruhvolle Erwartung im Blick auf die nächste Zukunft, welches alles wie Nebel meine Seele durchwogte. Auf der anderen Seite aber blickte durch eine angenehme, behagliche Umgebung, wie die Sonne durch das Frührot, mich die Freundlichkeit und Güte meines Gottes an. Und dieser Blick zog mich auf meine Knie. Als ich wieder aufstand, war der Nebel verschwunden, die Sonne hatte gesiegt, es war licht und still in meiner Seele geworden. Ich setzte mich nun auf das Sofa und war getrost und fröhlich in meinem Gott; in die Zukunft blickte ich gefassten Mutes.

Bald darauf klopfte es an meiner Stubentür; Susanne, das Dienstmädchen, brachte mein Abendessen. Sie war, wie die meisten Mädchen, sehr redelustig, und wenn ich gewollt hätte, so würde ich mich schon im Voraus über alle Verhältnisse des Hauses haben unterrichten können; da ich es aber vorzog, mir mein Urteil nach und nach aus eigener Anschauung und Beobachtung zu bilden, so schnitt ich ihre Mitteilungen durch die Bemerkung ab, daß ich müde sei und mich früh zu Bett legen wollte.

´Dies war in der Tat der Fall; sobald ich das Notwendigste ausgepackt hatte, suchte ich meine Ruhestätte auf. Welch ein bequemes Lager war das! Ich blickte zum weißen Betthimmel empor; faltenreich fielen die Gardinen zu beiden Seiten hernieder und waren mir wie eine Versinnlichung meines Lieblings-Abendgebetes: „Breit aus die Flügel beide, o Jesu, meine Freude, und nimm Dein Kücklein ein!“ Ja, wohl und behaglich, wie ein Kücklein unter dem schützenden Flügel der Henne, fühlte ich mich im weichen schwellenden Bette und in der Fürsorge meines Gottes.


1)  Zwei Wochen nach Ostern; der lateinische Name des Sonntags bedeutet „die Güte des Herrn“

2)  Von Ämilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt 1686

3)  Gemeint ist die Bitte in Matthäus 6,12: Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.

4)  Der Sonntag acht Wochen nach Ostern


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