Licht von Oben - Buchdeckel

Ein Familiendrama mit jähem Ende

Die ersten Jahre meines Aufenthaltes im Greifmüllerschen Hause vergingen ohne bemerkenswerte Ereignisse. Aber obgleich unser Leben äußerlich in der gewohnten Weise verlief, so bereitete sich doch in der Stille, ungesehen und von den Beteiligten unbemerkt, die Katastrophe vor, welche einige Jahre später dieses Familienleben gänzlich zersprengen und zerstören sollte. Herr Greifmüller ging einen Tag wie den anderen nach der Börse, schloß Geschäfte ab und arbeitete fleißig, ja, vielleicht noch fleißiger als früher, auf seinem Kontor. Fortuna lächelte ihm; doch hatte sie zuweilen auch ihre Launen; und kehrte sie ihm einmal schmollend den Rücken, dann war Herrn Greifmüllers Stirn umwölkt, und er erschien am Abend nicht im Familienkreise. Madame Greifmüller zog sich immer mehr in ihr Boudoir zurück. Sie lag halbe Tage lang auf dem Sofa und las Romane, sprach viel von ihrer zarten Gesundheit und einem verfehlten Leben. Die Führung des Haushalts überließ sie ganz mir. „Ich freue mich,“ sagte sie einmal zu mir, „die Führung des Haushaltes jetzt in treuen Händen zu wissen, ich kann mich wirklich nicht darum bekümmern, dergleichen liegt zu tief unter meiner Sphäre.“

Herr Bruno war noch immer Teilhaber am Geschäft des Vaters, doch machte er auch manches Geschäft auf eigene Rechnung. Dies war dem Vater nicht lieb. „Bruno verliert immer mehr das Interesse an unserem gemeinsamen Geschäft und verwendet seine besten Kräfte auf den Handel für eigene Rechnung,“ klagte er einst. Doch konnte und wollte er dies Verfahren seines Sohnes wahrscheinlich nicht hindern. Das häusliche Leben seines Sohnes war kein ungetrübtes. Die Konfessionsverschiedenheit zwischen ihm und seiner Frau gab zu manchen Verdrießlichkeiten Anlaß und hatte schon bald nach der Hochzeit eine Entfremdung zwischen den Ehegatten herbeigeführt. Madame Bruno Greifmüller war streng katholisch und folgte in allem dem Rat ihres Beichtvaters, auch wenn derselbe den Wünschen ihres Mannes zuwider lief. Herr Bruno bekümmerte sich grundsätzlich nicht um Sachen der Religion. Der sei ein schlechter Kaufmann, pflegte er zu sagen, der sich mit Dingen befasse, deren Nutzen er nicht einigermaßen wenigstens im Voraus berechnen könne. Das Gewinnbringende der Religion aber solle in einem Jenseits liegen und lasse sich daher platterdings nicht berechnen. Sein Bruder Benno behauptete bei einer solchen Gelegenheit, die Götter des Altertums seien mit nichten ausgestorben, und ihr Kultus habe im neunzehnten Jahrhundert noch nichts von seinem Glanze eingebüßt, wenn auch die äußere Form desselben eine andere geworden sei. Sein Bruder Bruno z.B. diene dem Gotte Mammon und bringe demselben Leib und Leben, Zeit und Gesundheit, ja alle Empfindungen seines Herzens zum Opfer, und mehr habe dieser alte Götze zu keiner Zeit verlangt.

Zwischen den beiden Brüdern herrschte überhaupt wenig Übereinstimmung, und sie mieden sich daher so viel wie möglich. Benno vergrub sich immer mehr zwischen seinen Schätzen der Kunst und Wissenschaft. Ihm hatte noch ein Zimmer mehr eingerichtet werden müssen, weil er auf den Einfall gekommen war, sich lebensgroße Nachbildungen von allen bekannten asiatischen Völkerschaften in ihren Nationaltrachten anfertigen zu lassen. Es war eine bunte seltsame Gesellschaft, in der Herr Benno oft und mit Vorliebe verweilte. Er nannte dieses Zimmer eine orientalische Studie; sein Bruder Bruno dagegen bezeichnete es als kostspieligen Unsinn.

Das Haus des Barons von Bierfeld war kein Boden, auf welchem Blumen häuslichen Glücks erblühen konnten. Der Baron war auf dem einmal betretenen Wege weiter gegangen. Seine Geldverlegenheiten mehrten sich, und seine Briefe riefen immer dunklere Wolken auf die Stirn des Herrn Greifmüller. Zwar schickte er noch immer die von ihm verlangten Summen, aber er beantwortete die Briefe seines Schwiegersohnes nicht mehr und sprach auch nie von demselben. Bertha schrieb oft und lange Briefe an ihre Mutter, deren Inhalt aber niemand erfuhr; erfreulich muss derselbe nicht gewesen sein, denn nach Empfang eines Briefes von ihrer Tochter fand ich Madame Greifmüller häufig in Tränen.


An einem warmen, sonnigen Herbsttage des Jahres 1838 saß ich nach dem Mittagessen auf meinem Zimmer mit einer Handarbeit beschäftigt, als die Stubentür hastig aufgerissen ward und Beata in Hut und Tuch hereintrat. Sie war den ganzen Vormittag bei einer verheirateten Freundin gewesen, welche sie zu einer Spazierfahrt eingeladen hatte. Beata schien sehr aufgeregt zu sein, ihre Wangen glühten. Sie warf Hut und Tuch auf einen Stuhl und setzte sich zu mir.

„Cornelia,“ begann sie, „ich muss Dir“ - sie hatte mir schon in den ersten Wochen meines Daseins das schwesterliche Du angeboten - „etwas mitteilen: ich habe mich soeben verlobt.“

„Mit wem?“ fragte ich erstaunt.

„Mit dem Advokaten Dr. Rinnstein.“

„Mit dem schrecklichen Menschen!“ rief ich entsetzt.

„Bitte, nenne ihn nicht schrecklich, denn er ist jetzt mein Verlobter.“

„Und Deine Eltern haben ihre Einwilligung zu dieser Verlobung gegeben?“

„Die wissen von nichts; jetzt eben auf der reizenden Spazierfahrt haben wir uns verlobt.“

„Oh, Beata, wie konntest Du einen solchen Schritt tun, ohne die Einwilligung Deiner Eltern zu haben?“

„Liebe Cornelia, Du bist ein braves Mädchen und bist meine Freundin, aber Du bist entsetzlich hausbacken. Ich sehe, Du kennst die Liebe nicht, sonst könntest Du nicht so sprechen.“

Sie war aufgesprungen und fuhr mit Begeisterung fort:

„Liebe, die allgewaltige,
Wie die Flamme glüht sie,
Wenn der Abend graut,
Wie die Rose blüht sie,
Wenn der Morgen taut,
Wie ein Sternpaar blickt sie,
Das im Dunkeln blinkt,
Wie die Well` erquickt sie,
Die der Durst`ge trinkt!“

„Sag, Cornelia, hast Du je geliebt?“

Ihr hierauf eine Antwort zu geben, hielt ich für überflüssig, bat sie dagegen, ihren Eltern sogleich zu gestehen, welchen Schritt sie getan und um Vergebung bitten.

Beata sann einen Augenblick nach, dann sagte sie: „Ich will es tun, Dein Bußpredigergesicht ängstigt mich. Freilich hatte ich es mir so reizend ausgemalt, eine Zeit lang heimlich verlobt zu sein. Du weißt, in den Romanen wird dies so anmutig geschildert, ich hatte Lust, es auch einmal zu probieren; das Leben an und für sich ist entsetzlich prosaisch, da muss man suchen, ein wenig Poesie hinein zu bringen.“

„Aber, liebste Beata,“ warf ich ein, „das ist ja keine Poesie, das ist einfach Sünde; es ist eine Übertretung des vierten Gebotes1.“

„Da guckt schon wieder einmal die Schulmeistertochter heraus,“ rief sie lachend und küßte mich.

Ich musste auch lächeln, obgleich mir gar nicht fröhlich zu Mute war; dann fragte ich: „Aber, liebste Beata, bedenkst Du auch, welchen Ruf Dr. Rinnstein hat? Er soll ein wüstes, unordentliches Leben führen, in einem hohen Grade jähzornig sein und ist, wie Du weißt, dem Trunke ergeben.“

„Das habe ich alles bedacht. Ich hatte sogar den Mut und die Selbstüberwindung, ihm, als er mir in glühenden Worten seine Liebe gestanden, dieses zu sagen. Er ward nicht böse, wie ich gefürchtet hatte, nein, er warf sich vor mir nieder und weinte. Denke Dir Cornelia, er weinte. Er hob die Hände bittend zu mir empor und rief:

„Ja, ich weiß es, ich bin ein schwacher, elender Mensch; Ich bin ein Ertrinkender, aber Sie können mich retten; Ihre Liebe wird mich gut und stark machen. Erbarmen Sie sich meiner, retten Sie mich, werden Sie mein guter Engel, indem Sie die Meine werden! Oh, ich will Sie auf den Händen tragen, ich will Sie segnen bis zum letzten Atemzuge!“

„Sag, Cornelia, konnte ich da anders, als ihm meine Hand reichen? Es wäre doch unchristlich gewesen, ihn zu verstoßen. Du kennst ja das Lied, in welchem es so schön heißt:

„Da ruft (oh möchte Gott es geben!)
Vielleicht auch mir ein Sel`ger zu ;
Heil Dir, denn Du, Du hast das Leben,
Die Seele mir gerettet, Du!
Oh Gott! Wie muss das Glück erfreun,
Der Retter einer Seele sein!“2

Sieh, diesen Lohn will auch ich mir erwerben; ich will seine Seele retten, durch meine Liebe will ich sie retten!“

„Liebste Beata,“ wagte ich zu entgegnen, „das ist Schwärmerei; eine Seele retten kann allein Gott.“

Sie hörte nicht auf meine Worte, sondern fuhr schwärmerisch fort: „Oh, Du hättest sehen sollen, was nun folgte! Cornelia, es war in der Tat beinahe mehr, als ich zu ertragen vermochte. Ich saß auf einer Bank; er aber wollte sich nicht neben mich setzten, nein, er setzte sich zu meinen Füßen und deklamierte das hinreißende Gedicht von Freiligrath:

„So laß mich sitzen ohne Ende,
So laß mich sitzen für und für!
Leg` Deine beiden frommen Händen
Auf die erhitzte Stirne mir!“

Ich tat es und er fuhr fort:

„So bin ich fromm, so bin ich stille,
So bin ich sanft, so bin ich gut!
Ich habe Dich – das ist die Fülle!
Ich habe Dich – mein Wünschen ruht!“

„Cornelia, es war ein großer, ein seliger Augenblick! Jetzt kann ich in Wahrheit mit dem Dichter sprechen: „Ich habe gelebt und geliebt!“

Ich konnte nur mit dem äußersten Mitleid auf das jugendlich schöne, von Begeisterung glühende, aber gänzlich verblendete Mädchen blicken. Meine Versuche, ihr eine andere Anschauung der Sachlage zu geben, blieben erfolglos. Alles was ich erreichte, war, daß sie unverzüglich zu ihrer Mutter ging, um ihr das Geschehene mitzuteilen.


Herr und Madame Greifmüller waren beide nicht erfreut über diesen Schritt ihrer Tochter. Das Sündliche in der eigenmächtigen Verlobung Beatas schienen auch sie nicht zu erkennen; wenigstens war hiervon nicht die Rede. Hätte die Persönlichkeit des in Aussicht gestellten Schwiegersohnes ihnen besser gefallen, so würde wahrscheinlich kein Tadel ihrerseits Beata getroffen haben; an dem schlechten Ruf des Advokaten Rinnstein aber nahmen sie doch Anstoß.

Herr Greifmüller sagte, er habe an einem Schwiegersohn dieser Art genug, er sehne sich nicht nach einem zweiten Blutsauger; einmal habe er sich verblenden lassen; aber er sei durch Schaden klug geworden und werde daher zu dieser Verlobung seine Einwilligung nicht geben. „Willst Du heiraten,“ schloß er seine Rede, „so nimm einen soliden strebsamen Kaufmann, es gibt deren genug; und einen solchen werde ich mit Freuden als meinen Schwiegersohn willkommen heißen. Aber meine Töchter scheinen leider beide gänzlich aus der Art geschlagen zu sein.“

„Ja,“ fügte Madame Greifmüller hinzu, „Beata scheint es gar nicht zu bedenken, daß die Familie Greifmüller nur durch Verbindungen mit Namen von bekanntem guten Klange aus dem Staube ihrer Abstammung gezogen werden kann. Ein obskurer Advokat aber mit einem äußerst trivialen Namen ist wahrlich nicht geeignet, die Ehre und das Ansehen der Familie Greifmüller zu haben!“

Auch die Brüder Benno und Bruno waren gegen diese Verlobung ihrer Schwester, wenn auch aus sehr verschiedenen Gründen.

Beata weinte, erklärte aber, ihr einmal gegebenes Wort nicht brechen zu können.


So kam Neujahr heran. Gesprochen wurde über Beatas Angelegenheit nicht weiter, aber es herrschte eine künstliche Stille im Hause, welche nach und nach peinlich wurde. Beatas Fröhlichkeit war dahin, sie zitierte selten eine Stelle aus ihrem Lieblingsdichter Schiller, besuchte dagegen oft ihre verheiratete Freundin. Zwischen Herrn und Madame Greifmüller hatten in der letzten Zeit längere Besprechungen stattgefunden. Am dritten Januar war Beatas Geburtstag. Schon früh war sie zu ihren Eltern gerufen worden und kam bald darauf glückstrahlenden Antlitzes zu mir und rief, mich stürmisch umarmend: „Die Liebe hat gesiegt, die Treue trägt den Lohn davon, meine Eltern haben ihre Einwilligung zu meiner Verlobung gegeben! Mein Vater hat sich nach Robert erkundigt und überall gehört, daß er seit dem Herbst ein ganz anderer Mensch geworden sei; er geht in kein Wirtshaus mehr, hat mit keinem Menschen Streit und ist überhaupt der solideste, prächtigste Mensch von der Welt. Sieh, gute, hausbackene Seele, das vermag die Liebe!

Oh Liebe, Deine Gedanken
Sind höher denn Himmelshöh`!
Oh Liebe, Deine Gedanken
Sind tiefer als die See!
Oh Liebe, Deine Gedanken
Sind schneller als der Wind,
Und leuchtender viel tausendmal
Als Sonnenstrahlen sind!“

Von diesem Augenblicke an war Beatas Munterkeit wieder hergestellt, und man hörte wie früher ihr fröhliches Lachen durch das Haus schallen.

Die Verlobung wurde gefeiert, jedoch nicht mit allzu großer Pracht, nach dem Grundsatz des Herrn Greifmüller: „Wie der Herr ist, so wird die Wurst gebraten.“

Die Hochzeit fand im Frühlinge statt, und es herrschte dabei dasselbe Prinzip.

Mit Beata verließ der Geist des Frohsinns unser Haus; die Geister, die darin zurückgeblieben, waren ein finsterer Zahlengeist, ein unzufriedener Klagegeist, ein stummer Denkergeist und – nun ja, ein hausbackener Wirtschaftsgeist. Das Quartett, welches diese vier Geister auszuführen im Stande waren, enthielt nur sehr wenige heitere Melodien. Ich verlor in Beata eine wirkliche Freundin; denn vermochte ich auch nicht, mich in ihre Schwärmereien zu versenken, so hatten wir uns doch gegenseitig von Herzen lieb, und ihre kindliche, harmlose Fröhlichkeit hatte mir manche angenehme Stunde bereitet. Außerdem verdanke ich ihr einen großen Teil der geistigen Ausbildung, welche ich jetzt besitze. Sie hatte nicht nur einen sehr guten Schulunterricht empfangen, sondern nahm auch noch fortwährend Privatunterricht in den Sprachen, in der Geschichte und Literatur, und teilte mir von dem Neuerlernten bereitwillig mit. Bei einer zweckmäßigen Zeiteinteilung konnte ich leicht täglich mehrere Stunden für mich erübrigen und benutzte diese unter Beatas Anleitung zu meiner weiteren geistigen Ausbildung. So ist es z.B. gekommen, daß ich, eine einfache Kantorstochter, die Shakespeareschen Dramen in der Ursprache lesen kann.

Als Gegengabe versuchte ich, Beata das mitzuteilen, was ihr fehlte, ich aber durch Gottes Gnade besaß. Ich versuchte, ihren Blick von dem Irdischen auf das Himmlische hinzuleiten und sie die Kunst zu lehren, welche ich hauptsächlich meinem früheren Dachfensterchen verdanke. Ich meine die Kunst, im Niederen das Höhere, im Vergänglichen das Unvergängliche zu schauen, indem wir alles in das Licht von Oben bringen, fand aber bei Beata wenig Empfänglichkeit für eine solche Anschauung der Dinge. Ihr Geist hatte wenig Zug nach Oben, wie denn überhaupt im Greifmüllerschen Hause alles nur auf dieses Leben berechnet war. Eine Bibel außer der meinigen habe ich z.B. nie im Hause gesehen. Fand Beata mich in der Bibel oder in meinen Paul Gerhardtschen Liedern lesend, so bezeichnete sie dies als ein misteriöses Christentum; versuchte ich, ihr den Begriff der Sünde klar zu machen, so nannte sie das mosaischen Gesetzeszwang.

Obgleich ich mit diesen Dingen wenig Eingang bei ihr fand, so ließ ich doch nicht nach, sie bei jeder Gelegenheit auf das Eine, das not tat, hinzuweisen und gedachte dabei des Säens auf Hoffnung, wovon die Schrift redet. Gottes Wort soll nach Seiner Verheißung nicht leer zurückkommen3, und so konnte es ja auch in ihrer Seele ein Samenkorn werden, das, nachdem es den Frühregen und Spätregen empfangen4, aufgeht und Frucht trägt zum ewigen Leben. Aber auch an ein Wort aus dem Munde unseres Herrn Jesus musste ich denken, an ein Wort von sehr ernstem Klange, das von drei Evangelisten verzeichnet auf uns gekommen ist, nämlich an das: „Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn das ein Reicher ins Reich Gottes komme.“5 Und ich dankte Gott für meine Armut. Später habe ich freilich gelernt, daß das Reichsein, vor dem der Herr so eindringlich warnt, nicht sowohl in dem Besitz irdischer Güter, als in der Gefangennahme des Herzens durch die Güter dieser Welt besteht, und das daher mit dem gefährlichen Reichtum nicht nur Geld und Gut, sondern alles, daran der Mensch, außer Gott, sein Herz hängt, gemeint ist. Wie gefährlich der Reichtum seine Besitzer werden kann, das wußte schon David, und ermahnt darum im 62. Psalm: „Fällt euch Reichtum zu, so hänget das Herz nicht daran!“

Die ersten Wochen nach Beatas Verheiratung vergingen den jungen Eheleuten und uns ungetrübt. Beata versicherte einmal über das andere: „Robert ist wirklich ein ganz anderer Mensch geworden, er ist ganz prächtig; eine glücklichere Frau als mich hat die Sonne noch nie beschienen.“

Ich war nach wie vor ihre Freundin; mir verhehlte sie keine Empfindung ihres Herzens. Sie mochte ungefähr zwei Monate verheiratet sein, da holte sie mich zu einem Spaziergange ab. „Robert ist zu einem Herrendiner geladen und wird so bald nicht heimkehren,“ sagte sie, „denke Dir, ich bin in diesen zwei Monaten so verwöhnt, daß schon eine so kurze Trennung mir schwer wird,das ist doch ein Zeichen großen Glücks, nicht wahr, Cornelia?“

Ich antwortete, sie umarmend: „Der Herr erhalte Dir Dein Glück.“

„Oh,“ sagte sie hastig, „wie könnte unser Glück je aufhören? Robert ist so lieb und gut.“

Nach acht Tagen erzählte sie mir im Laufe des Gesprächs, daß die Freunde ihres Mannes anfingen, ihn ob seiner allzu großen Häuslichkeit zu necken, und daß sie ihn einen Duckmäuser und den Schleppenträger seiner Frau nennten. „Es ist dies Robert natürlich nicht lieb,“ fügte sie hinzu, „und auch mir selbst ist dies Gerede unangenehm; ich habe daher Robert selbst gebeten, sich zuweilen im Kreise seiner Freunde zu zeigen und ein Glas Bier mit ihnen zu trinken. Er wollte anfangs nicht einwilligen, und ich musste ihn ordentlich quälen, bis er ja sagte; denke Dir, so solide ist er jetzt; ja, er ist ganz prächtig! Heute nun ist er zum ersten Mal mit seinen Freunden gegangen.“

Wenige Tage darauf erzählte sie: „Es hat Robert gar nicht wie früher zwischen seinen Freunden gefallen, er hat allen Geschmack am Wirtshausleben verloren; doch sähe er ein, sagte er, daß er sich zuweilen im Kreise seiner Freunde zeigen müsse. Wolle er fortfahren, so zurückgezogen wie bisher zu leben, so könne ihm dies auch in seiner Praxis sehr schaden, denn dann würden die Leute am Ende ganz vergessen, daß ein Advokat Rinnstein in der Welt sei und mit ihren Prozessen zu anderen Advokaten gehen. Ich sah es ein, und wir machten daher aus, daß Robert wöchentlich zweimal den Club besuchen solle. Ich gestehe Dir aber Cornelia,“ fügte sie ein wenig traurig hinzu, „daß ich Mühe haben werde, mich an diese einsamen Stunden zu gewöhnen.“

Einige Wochen später sagte sie: „Die einsamen Abende werden mir noch immer recht schwer. Es sind auch nicht nur die beiden Klubabende, an denen Robert fort ist, nein, er ist so beliebt im Kreise seiner Freunde, daß er wöchentlich mindestens einmal zu einem Herrenessen geladen wird. Eigentlich müßte ich mich über die Beliebtheit meines Mannes freuen, nicht wahr, Cornelia? Es ist auch wirklich nur meine Verzogenheit, daß ich es nicht tue. Auch Robert wird die häufige Trennung von mir schwer, und wenn er einen Abend hat fort sein müssen, ist er hernach doppelt freundlich und zärtlich gegen mich“.

So ging es allmählich die Tonleiter hinunter. Inder Weihnachtszeit war Dr. Rinnstein keinen Tag zu Hause gewesen und hatte sogar einen recht verdrießlichen Handel im Wirtshause gehabt. Beata erzählte es mir mit Tränen.

Am 6. Januar, dem Feste der Erscheinung Christi, des Jahres 1840, wurde ihnen ein Töchterchen geboren. Dr. Rinnstein schien sehr glücklich zu sein und blieb mehrere Tage ganz zu Hause. Ich traf ihn, wie er an der Wiege seines Kindes stand und das kleine schlummernde Menschenbild nachdenklich betrachtete. Ich sprach ihm meinen Glückwunsch aus, da reichte er mir die hand und sagte: „Ja, ich bin eines solchen Glückes gar nicht wert!“ Dann veließ er rach das Zimmer.

Am Sonntage Septuagesimae6 war die Taufe; es war ein fröhlicher glücklicher Tag. Ich war neben Madame Greifmüller und der Baronin Bierfeld – welche jedoch nicht hatte kommen können Gevatter. Beata wünschte, daß die Kleine nach mir Cornelia genannt werde, sie habe eine besondere Vorliebe für diesen Namen, sagte sie. Der Papa und der Großpapa wars zufrieden, der Großmama aber wäre ein Name mit den Anfangsbuchstaben B. Sehr viel lieber gewesen, und stellte daher die Namen Bertha, Barbara, Brigitta, Betina und Beatrix zur Auswahl, war auch erbötig, sich auf noch mehr Namen mit dem Anfangsbuchstaben B. Zu besinnen, falls keiner der genannten gefallen sollte. Beata bestand jedoch auf ihrem Wunsche, und so erhielt die Kleine in der heiligen Taufe die Namen: Cornelia, Bertha, Gismundis.

Das Alleinsein ward der jungen Mutter nun nicht mehr so schwer; ihr Kind war ihr eine unerschöpfliche Quelle der Freude und der Unterhaltung. Im März desselben Jahres konnte sie mir sogar mit scheinbarem Gleichmut erzählen, daß ihr Mann in der vergangenen Woche keinen Tag zu Hause gewesen sei. Bild jedoch wurden neue Klagen laut; ihr Norbert sei jetzt immer so verstimmt und aufgeregt, sagte sie, es sei oft recht schwer, mit ihm fertig zu werden. Doch vermochte sie noch sich mit des Dichters Wort zu trösten:

„Wenn es dir übel geht,
Nimm es für gut nur immer;
Wenn du es übel nimmst,
So geht es dir noch schlimmer.
Und wenn der Freund dich kränkt,
Verzeih`s ihm und gesteh`:
Es ist ihm selbst nicht wohl,
Sonst tät` er dir nicht weh.
Und kränkt die Liebe dich,
Sei dies zur Lieb` ein Sporn,
Daß du die Rose hast,
Das merkst du erst am Dorn.“7

So verging der Sommer.


An einem Herbstnachmittage, es war der 20. September und derselbe Tag, an welchem vor zwei Jahren Beata mir glückstrahlend ihre Verlobung mitgeteilt hatte, saß ich wie damals, mit einer Näharbeit beschäftigt, auf meinem Zimmer. In meinem Herzen war es still und fröhlich, und ich sang daher meinem Gott mein schönstes Loblied: „Ich singe Dir mit Herz und Mund, Herr meines Lebens Lust!“ Als ich bis zur Strophe gekommen war:

„Wohl auf, mein Herze, sing` und spring`
Und habe guten Mut!
Dein Gott, der Ursprung aller Ding`,
Ist selbst und bleibt dein Gut,“

ward, wie vor zwei Jahren, die Tür meines Zimmers aufgerissen, und Beata mit ihrem Kindlein auf dem Arm trat herein, aber nicht wie damals mit dem Ausdruck der Freude und des Glücks auf dem Antlitz, sondern mit einem Ausdruck, den ich gar nicht zu beschreiben vermag, und der mir das Blut in den Adern erstarren machte. Es war ein Gemisch von Entsetzen, Empörung und Verzweiflung, daß ihr Gesicht verzerrte.

Erschrocken sprang ich auf und rief: „Beata, was ist geschehen?“

Ohne mir zu antworten, warf sie ihr Kindlein auf das Sofa, sich selbst daneben und schluchzte krampfhaft. Ich schoß sie in meine Arme und versuchte, sie zu beruhigen. Sie aber rief mit heiserer, tonloser Stimme: „Cornelia, spare Deine Worte, verschwende Deine Trostgründe nicht; Du weißt nicht, was geschehen ist! Er, der mich auf den Händen durch dieses Leben tragen, der mich segnen wollte bis zu letzten Atemzuge, der mir Liebe und Treue vor Gott und Menschen gelobt, hat mich geschlagen, mich, sein Weib, geschlagen!“

Die Unglückliche brach zusammen und weinte zum Herzbrechen. Ich weinte mit ihr, weiter vermochte auch ich in diesem Augenblicke nichts. So saßen wir lange. Da erwachte das Kindlein und schrie; ich nahm es auf meine Arme und trug es im Zimmer umher, bis es eingeschlafen war; dann legte ich es behutsam aufs Sofa neben seine unglückliche Mutter.

Diese hatte sich inzwischen soweit gefaßt, daß sie mir den Hergang des beklagenswerten Ereignisses erzählen konnte:

„Robert kam heute Mittag wie gewöhnlich sehr erregt und verstimmt nach Hause; schon seit längerer Zeit geht er auch am Vormittage und Wirtshaus. Das Essen schmeckte ihm nicht, und er schob seinen Teller zurück mit den Worten: „Wenn ich keine besser zubereiteten Speisen in meinem Hause finde, tue ich besser im Gasthause zu essen.“ Ich entgegnete, daß er heute ungewöhnlich spät nach Hause gekommen sei, und das die Speisen durch das lange Stehen unschmackhaft geworden. Da fuhr er zornig auf und sagte, er sei kein Schulbube, der sich die Zeit des Nachhausekommens vorschreiben lassen müsse. Ich weinte und wollte etwas erwidern, das reizte ihn noch mehr; mit den Worten: „Ihr Weiber habt immer Recht,“ erhob er die Hand und schlug mich in das Gesicht. Oh Cornelia, wäre ich doch gleich gestorben! Daß ich eine solche Schmach überleben muss! Aber wie soll ich, so entehrt, das Leben ferner tragen?“

Ich antwortete ihr: „Liebe Beata, das Entehrende fällt auf Deinen unglücklichen Mann zurück; komm laß uns für ihn beten!“

Sie sah mich einen Augenblick starr an, dann sagte sie: Cornelia, was verlangst Du von mir?“

Nichts, was Du nicht könntest. Liebe Beata, denke an den Herrn Jesus, der uns zu gut nicht nur Backenstreiche, sondern auch Geißelhiebe, ja, den schmählichsten Missetätertod am Kreuze erduldet und hat für seine Feinde gebetet; und deshalb können auch wir in Seiner Kraft für die beten, welche uns beleidigt und bis zum Tode verwundet haben.“

Ich nahm sie bei der Hand, und sie folgte mir willig. Wir knieten niedere, und ich betete laut für sie um ein demütiges und ergebenes Herz und legte ihre ganze Zukunft in Gottes Vaterhände. Als wir uns erhoben, sank sie in meine Arme, dankte mir und sagte: „Cornelia, was wäre aus mir geworden, wenn ich Dich nicht gehabt hätte! Wärst Du nicht hier gewesen, ich würde anstatt in das Haus meiner Eltern in die Alster gegangen sein. Aber es zog mich zu Dir mit magnetischer Gewalt.“

Beata Eltern waren über die Behandlung ihrer Tochter natürlich sehr empört. Madame Greifmüller sprach von Scheidung; Herr Greifmüller drohte mit allen nur erdenklichen Strafen. Benno erklärte sich bereit, zu seinem Schwager zu gehen und ihm zu sagen, daß unter diesen Umständen seine Schwester nicht zu ihm zurückkehren könne. Wider Erwarten hatte er Dr. Rinnstein sehr zerknirscht und reumütig gefunden. Er brachte ihn mit, eine Versöhnung fand statt, und das junge Ehepaar kehrte in seine Wohnung zurück. Dr. Rinnstein nahm sich von jetzt an mehr zusammen, er war freundlicher und rücksichtsvoller gegen seine Frau. Äußerlich herrschten Ruhe und Frieden im Hause, aber es war die Ruhe auf einem Vulkan.


Der Winter ging dahin, und der Frühling 1841 kam. Madame Greifmüller war den ganzen Winter besonders leidend, und Herr Greifmüller oft finster und in sich gekehrt gewesen. Herr Benno kam nur noch zu den Mahlzeiten herunter. Es herrschte wenig Freude und Geselligkeit im Hause; oft lag es auf mir wie die Schwüle vor einem Gewitter. Berthas Briefe lauteten immer betrübter und Besorgnis erregender. Der Baron war seines wilden, unordentlichen Lebenswandels und seiner Spielsucht wegen aus dem Regimente entlassen worden; seine Anforderungen an die Kasse des Schwiegervaters steigerten sich der Art, daß Herr Greifmüller erklärte, von jetzt an nicht über die festgesetzte Rente gehen zu wollen.

So standen die Sachen, als wir an einem Maiabend im Zimmer der Madame Greifmüller zum Tee versammelt waren. Beata war gleichfalls anwesend. Herr Greifmüller schien seit einigen Tagen etwas besserer Laune zu sein; er sprach von einem Unternehmen, das allerdings ziemlich gewagt, aber sehr gewinnverheißend sei; Bruno habe sich zwar nicht an demselben beteiligen wollen, der gehe überhaupt schon seit längerer Zeit seinen eigenen Weg. „Ich denke, unsere Geschäfte werden sich bald ganz trennen,“ schloß Herr Greifmüller seine Mitteilung, „und das wird auch für uns beide das Beste sein.“

Auch Benno war heute gesprächiger und teilnehmender als sonst. Er hatte wieder irgendwo eine Rarität aufgefunden und käuflich an sich gebracht, und das stimmte ihn allemal vergnügt. Es war so heiter und gemütlich in unserem Kreise, wie schon lange nicht.

Da verkündigte das Schmettern eines Posthorns das Nahen eines Reisewagens. Derselbe hielt vor unserem Hause. Wir eilten ans Fenster und blickten hinaus. Der Diener hatte schon den Wagenschlag geöffnet, drei Knaben und eine Dame stiegen aus. Weiter vermochten wir in der Dunkelheit nichts zu erkennen. Wir sahen uns an, bange Erwartung lag auf jedem Gesichte, und Madame Greifmüller sagte: „Ich fürchte es ist Bertha.“

Jetzt wurde die Stubentür geöffnet, und die Dame, von den drei Knaben gefolgt, trat ein. Ja, es war Bertha. Ich hatte sie in den ersten Jahren meines Dortseins gesehen, seitdem war sie nicht wieder bei ihren Eltern gewesen. In diesen sechs Jahren hatte sich ihr Aussehen dergestalt verändert, daß es kaum möglich war, sie wieder zu erkennen. Ihr Haar war, obgleich sie kaum dreißig Jahre zählte, gebleicht, und in den gramdurchfurchten Zügen ihres Angesichts war eine lange traurige Geschichte zu lesen. Stumm warf sie sich in die Arme ihrer Eltern. Dann umarmte sie Beata. Die Schwestern hielten sich lange laut schluchzend umfangen. Es war ein tief ergreifendes Wiedersehen; wir alle weinten.

Es war schon spät, deshalb sollten die Knaben, nachdem sie mit Speise und Trank erquickt worden, zu Bett gebracht werden. Bertha forderte sie auf, gute Nacht zu sagen; da wies der Kleinste, der ein besonders scheues, gedrücktes Wesen hatte, auf seinen Großvater und fragte: „Mama, schlägt uns hier auch gewiß niemand?“

Diese Frage des Kindes ließ eine tiefen Blick in ihre Leidensgeschichte tun, als der Mama lieb sein mochte; sie zwang sich daher zu einem Lächeln und antwortete: „Wenn mein kleiner Harald artig und folgsam ist, schlägt ihn niemand.“ Der Knabe wollte noch etwas sagen, da verschloß sie ihm den Mund mit einem Kuß und übergab ihn dem Dienstmädchen zum Auskleiden. Ich nahm die beiden älteren Knaben bei der Hand, sie folgten willig. Wir stiegen die Treppen hinauf in das für sie hergerichtete Schlafgemach. Um allen Fragen und Erzählungen der Kinder in Gegenwart des Mädchens vorzubeugen,, erzählte ich ihnen beim Auskleiden ein Märchen. Sie horchten aufmerksam, bald lagen sie ausgekleidet in ihren Betten, und das Dienstmädchen entfernte sich. Ich blieb und fragte: „Betet ihr auch?“ Sie antworteten: Ja, die Mama betet mit uns.“ Da hieß ich sie die Hände falten und betete mit ihnen. Gleich darauf schliefen sie alle drei den glücklichen Kinderschlaf.

Während meiner Abwesenheit hatte Bertha ihren Eltern die Ursache ihres unerwarteten Kommens mitgeteilt. Ihr Mann hatte ihr erklärt, daß, nachdem ihr Vater fernere außerordentliche Geldzuschüsse verweigert habe, ihm kein anderes Mittel übrig bleibe, als sich durch die Flucht seinen Gläubigern zu entziehen. Darauf sei er abgereist, sie wisse nicht wohin. Ihre Schmucksachen, sogar ihre Uhr habe er mitgenommen. Ihr sei nicht soviel geblieben, um der Dienerschaft den rückständigen Lohn auszuzahlen und die Reise hierher zu bestreiten. Sie habe zu diesem Zwecke von einer dortigen Bekannten zweihundert Taler borgen müssen.

Das war das düstere Ende eines glänzenden Anfangs.


Die folgenden Wochen schlichen bleiernen Schrittes dahin, eine drückende Schwere lag auf allen Gemütern. Herr Greifmüller war düsterer denn je und ließ einzelne Unheil verkündende Worte fallen.

Am ersten Sonntage nach Trinitatis, als ich aus dem Hause trat, um in die Kirche zu gehen, stürzte mir Beata atemlos entgegen und zog mich wieder ins Haus zurück.

„Beata, was ist geschehen?“

„Ein großes Unglück! Komm mit zu meiner Mutter, da sollst Du alles erfahren.“

Madame Greifmüller lag auf dem Sofa und war über unser plötzliches Erscheinen sehr verwundert. Beata ließ ihr indes nicht lange Zeit zur Verwunderung. Fast atemlos und mit bebender Stimme sagte sie:

„Jetzt ist auch unser häusliches Glück für immer zerstört. Diese Nacht kam Robert nicht nach Hause, und heute Morgen ist mir vom Gericht die Anzeige geworden, daß er sich in Haft befindet. Er hat diese Nacht in der Trunkenheit“ - sie brauchte dieses Wort zum ersten Mal - „Streit bekommen und seinen Gegner mit dem Messer erstochen!“

Wir waren schon so sehr an Gemütsbewegungen schmerzlicher Art gewöhnt, daß keine von uns in Ohnmacht fiel, oder auch nur einen Schrei des Entsetzens ausstieß.

Herr Greifmüller nahm diese neue Unglücksbotschaft mit ungewöhnlichem Gleichmut entgegen. Er nickte nur mit dem Kopfe und sagte: „Ja, ja, es geht alles zu Ende!“

Auf Beatas Wunsch begleitete ich sie nach ihrer Wohnung und blieb den Tag über bei ihr.

Als ich am Abend heimkehrte, empfing mich die Nachricht, daß Her Greifmüller gleich auch Beata und mir das Haus verlassen habe und bis jetzt nicht zurückgekehrt sei. Er war auf seinem Bureau gesehen worden; dort war er um zwölf Uhr Mittags gewesen, hatte Briefe in Empfang genommen und gelesen und war von dort fortgegangen, ohne jemand ein Wort zu sagen.

Der Polizei war bereits Anzeige von seinem Verschwinden gemacht worden. Wir durchwachten eine angstvolle Nacht. Der Morgen brachte Gewißheit. In der Alster war die Leiche eines Mannes aufgefischt und als die des Herrn Greifmüller erkannt worden. Mit einem schwarzen Tuch bedeckt, wurde uns dieselbe auf einer Bahre ins Haus gebracht.

Ich rief Benno, und wir ließen die Leiche des unglücklichen Mannes in ein entferntes Zimmer bringen. Es war ein grauenerregender Anblick; die Hände waren krampfhaft geballt, das nasse haar hing wirr über das Gesicht, der Mund war geöffnet, die Augen starrten ins Leere.

Ich stand vor der Leiche und sann darüber nach, auf welche Weise dieser härteste Schlag der armen Madame Greifmüller am schonendsten beizubringen sein möchte. Daß ein pekuniärer Ruin des Hauses mit diesem Selbstmord in Verbindung stehe, schien mir unzweifelhaft. Ich war mit meinem Sinnen noch nicht weit gekommen, da hörte ich hinter mir einen gellenden Schrei. Es war ein solcher, den man nur einmal zu hören braucht, um ihn nie wieder zu vergessen. Mich umwendend, sah ich Madame Greifmüller am Boden liegen. Benno und ich hoben sie auf – sie war tot. Ein Herzschlag hatte bei dem unerwarteten Anblick ihres toten Mannes auch ihrem Leben ein Ende gemacht.


1)  2.Mose 20,12: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß du lange lebest in dem Lande, das dir der HERR dein Gott gibt.

2)  Von O. Glaubrecht

3)  Jesaja 55,11

4)  Jakobus 5,7

5)  Markus 10,25

6)  70 Tage vor Ostern

7)  Von Friedrich Rückert


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