Licht von Oben - Buchdeckel

Neue Bekanntschaften

Es war ein frischer, nebliger Herbstmorgen, an welchem ich meiner neuen Heimat entgegen reiste. Von Hamburg nach Lüneburg benutzte ich die Eisenbahn. In den siebzehn Jahren, welche ich in Hamburg zugebracht hatte, waren Eisenbahnen entstanden. Es war dies das erste Mal, daß ich auf einer solchen fuhr, und ich freute mich dieses schnellen und bequemen Beförderungsmittels. Wie schneckenhaft langsam war ich vor siebzehn Jahren vom Städtchen X. nach Hamburg gereist, und wie vogelschnell durchflog ich jetzt die Welt. Der liebe Gott hat dem menschlichen Geiste große Gaben verliehen, und diese zeigen sich ganz besonders in den mancherlei Erfindungen. Möchten nur die Menschen bei allem, was sie vermögen und zustande bringen, Gott die Ehre geben, dann könnte man sich so recht von Herzen aller neuen Erfindungen freuen, denn dann würden dieselben auch wohl mehr in den Dienst Gottes und nicht – wie dies ja häufig leider der Fall ist – in den Dienst eines wiederchristlichen Geistes gestellt werden.

Um den Flecken B. zu erreichen, musste ich von Lüneburg mit einem Wagen noch mehrere Stunden in die Heide hineinfahren. Die Gegend rings umher war öde und die Fahrt daher langweilig. In dem tiefen losen Sande vermochten die Pferde den schwer bepackten Wagen – meine beiden Koffer standen auch darauf – nur langsam vorzubringen, was nicht dazu beitrug, die Fahrt unterhaltsamer zu machen.

Da die Außenwelt so wenig bot, so ließ ich den Blick meines inneren Auges in die Vergangenheit schweifen und überdachte die Wege und Führungen meines Gottes, in denen sich bis jetzt mein Leben bewegt hatte. Der Schluß dieser Betrachtungen ließ sich zusammenfassen in das bekannte Dichterwort:

„Die Wege sind oft krumm und doch gerad`,
Darauf läßt Du die Kinder zu Dir gehn.
Da pflegt es wunderseltsam auszusehn,
Doch triumphiert zuletzt Dein hoher Rat.“1

Das Sinnen und Denken, dazu die langsame, schaukelnde Bewegung des Wagens versetzte mich allmählich in einen traumhafte Halbschlummer, in welchem es mir vorkam, als müßte mich im nächsten Augenblicke das Schicksal Dornröschens ereilen und ich samt dem Kutscher und Pferden in einen tiefen und langen Schlaf verfallen. Der Kutscher hatte sein graues, verwittertes Haupt auf die Brust sinken lassen und schlief bereits. Die Pferde nickten bei jedem Schritte so seltsam träumerisch mit den Köpfen, und wenn es überhaupt möglich ist, daß Pferde im Gehen schlafen können, so schliefen diese beiden gewiss auch. Dazu knarrten die Räder des Wagens, indem sie sich schwerfällig im Sande umdrehten, ganz vernehmlich die Worte: „Nur immer langsam voran, nur immer langsam voran!“ Kein Wunder, daß unter diesen Umständen auch mich eine unwiderstehliche Müdigkeit beschlich; ich schloß die Augen und gedachte den Rest des Weges gleichfalls zu verschlafen.

Es wird gesagt, daß der Müller aufwacht, wenn seine Mühle stillsteht. Diese Erfahrung fand bei mir ihre Bestätigung und rettete mich vom Schicksale Dornröschens, denn ich erwachte davon, daß der Wagen plötzlich stillstand. Nun weckte ich auch den Kutscher; dieser hieb, erschrocken auffahrend, auf die Pferde, welche mit tief herabgesenkten Köpfen dastanden, und nun ging es in einem etwas geschwinderen Tempo weiter.


Es war bereits gegen Abend, als ich das Haus des Doktor Rhabarber betrat. Ein junges, hochaufgeschossenes Mädchen von fünfzehn bis sechzehn Jahren, in einem auffallend kurzen Kleide, welche sich als die Tochter des Hauses zu erkennen gab, empfing mich nicht gerade freundlich und führte mich in das für mich bestimmte Stübchen, indem sie sagte, daß ihr Vater über Land gefahren sei, wohl aber bald heimkehren werde. „Sie hätten eigentlich gar nicht zu kommen brauchen,“ setzte sie naiv hinzu, „denn ich kann den Haushalt recht gut allein besorgen, wie ich es auch schon in den beiden letzten Jahren getan habe.“

„Dein Vater scheint aber doch anderer Ansicht zu sein,“ entgegnete ich.

„Daran ist allein die unausstehliche Tante Lisette schuld,“ rief das junge Mädchen heftig und zerdrückte eine Träne in ihren Augen.

„Wer ist denn Tante Lisette?“

„Sie ist die Schwester meines Vaters und lebt in Lübeck; aber sie besucht uns zuweilen und mischt sich dann in Dinge, die sie nichts angehen.“

Um das Gespräch auf einen anderen Gegenstand zu lenken, fragte ich die erzürnte Sprecherin nach ihrem Namen.

„Ich heiße Schatty.“

„Das ist ja ein ungewöhnlicher Name.“

„Eigentlich heiße ich Charlotte, werde aber von Allen Schatty genannt.“

Wir gingen jetzt in das allgemeine Wohnzimmer, wo sich inzwischen die übrigen Kinder versammelt hatten und mich bei meinem Erscheinen neugierig und zugleich verlegen anstarrten. Es waren vier Kinder, zwei Mädchen von zwölf und zehn Jahren und zwei Knaben von acht und sechs Jahren.

Ich reichte dem ältesten Mädchen die Hand und fragte nach ihrem Namen.

„Ich heiße Wieschen,“ war die Antwort. Die zweite wurde mir als „Putchen“ und die beiden Knaben als „Dolly und Fretty“ vorgestellt.

„Aber wie heißt ihr denn eigentlich?“ fragte ich, durch diese Namenverunstaltung beinahe verwirrt.

Wieschen wußte, daß sie eigentlich Louise heiße, den übrigen Dreien aber waren ihre Taufnamen gar nicht bekannt. Von Charlotte erfuhr ich, daß sie Pauline, Adolf und Alfred hießen.

Hierauf eröffnete ich ihnen, daß ich sie bei ihrem Taufnamen nennen werde, worauf sie mich ihrerseits in sprachloser Verwunderung anblickten.

Nach etwa einer Stunde kehrte der Doktor von seiner Landtour heim. Er war ein kleiner, sehr beweglicher Herr, der mich mit großer Lebendigkeit begrüßte.

„Sie werden hier wohl manches anders finden, als es sein sollte,“ sagte er im Laufe des Gesprächs; „in den drei Jahren, in welchen meine Frau krank gelegen, ist der Haushalt rückwärts gegangen, und die Kinder sind etwas verwildert. Ich hätte wohl schon früher eine Dame ins Haus nehmen sollen, aber so lange meine Frau lebte, durfte ich es nicht, denn ihr war der Gedanke, eine Fremde ihren Platz ausfüllen zu sehen, zu schmerzlich; und Schatty meinte auch alles besorgen zu können, aber es geht doch nicht, ich sehe es ein. Vielleicht werden sie mit Schatty keinen leichten Stand haben,“ fügte er etwas bedenklich hinzu, „denn das Mädchen besitzt einen großen Ehrgeiz und wird sich nur schwer dazu verstehen, etwas von ihren vermeintlichen Rechten aufzugeben.“

Ich beruhigte den Doktor durch die Versicherung, daß ich versuchen werde, zu Charlotte in ein recht freundliches Verhältnis zu treten.

Hierzu erschien es mir zweckmäßig, die Zügel meines Regiments sehr vorsichtig und allmählich in die Hand zu nehmen, und ich verhielt mich daher an diesem Abend lediglich als Zuschauerin. Es gab auch so viel zu sehen, daß ich damit vollauf zu tun hatte.

Zum Abendessen erschienen sämtliche Kinder mit ungewaschenen Händen und ungeordnetem Haar. Ihre sehr zerrissenen Anzüge waren mir schon bei der ersten Begrüßung aufgefallen, und ich hatte gedacht, daß hier die Nähnadel wohl keine Zeit haben werde einzurosten. Ein Blick auf den gedeckten Tisch gab mir zu neuen Betrachtungen Veranlassung. Freilich war es Sonnabend-Abend, und an einem solchen ist man – zumal in einem kinderreichen Hause – gewiß geneigt, das Tischtuch mit nachsichtigen Blicken zu betrachten, aber die Speise Musterkarte, welche sich auf diesem Tischtuche meinen Blicken darbot, übertraf an Mannigfaltigkeit der Zeichnungen und Farben alles, was auch die kühnste Phantasie auf diesem Gebiete zu ersinnen vermag. Ich war starr vor Entsetzten ob dieses Anblicks und nahe daran, den bekannten Satz: „Nichts Neues unter der Sonne,“2 als ungültig zu bezeichnen. Resigniert setzte ich mich an meinen Platz, auf bessere Zeiten hoffend.

Charlotte schenkte den Tee ein. Als ich meine Tasse zum Munde führen wollte, gewahrte ich, daß dieselbe vor Zeiten wohl einmal einen Henkel gehabt haben mochte, jetzt aber einen solchen nicht mehr besitze. Ich sah mich nach einem Teelöffel um. Ja, da lag auf der geborstenen Untertasse ein Stück verbogenes, zerdrücktes und zerbissenes Metall, das wohl einige Ähnlichkeit mit einem Löffel hatte, aber unter anderen Umständen schwerlich von mir für einen solchen würde gehalten worden sein. Unwillkürlich schaute ich nach der Tasse des Doktors; diese befand sich in ähnlichen Umständen wie die meinige. Ich blickte nach den Tassen der Kinder; sie waren sämtlich noch ärger beschädigt. Nun forschte ich weiter und fand, daß alles auf dem Tische ohne Ausnahme den Stempel der Zertrümmerung trug. Wahrscheinlich würde ich über diesen seltsamen Umstand noch weiter nachgedacht haben, wenn nicht Neues meine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen hätte. Denn kaum hatte die Mahlzeit begonnen, als sich zwischen den Kindern Streit erhob; sie rissen sich gegenseitig die Butterbrote weg, belegten sich mit Schimpfnamen und teilten sich schließlich Ohrfeigen aus. Der Doktor gebot Ruhe und drohte mit dem Stock. Für einige Augenblicke trat auch Ruhe ein; diese benutzte Adolf, sich der Länge nach auf den Tisch werfend, eine Schüssel mit gebratenen Kartoffel zu erfassen; Louise, welche neben Adolf saß, erfaßte ihn bei den Beinen, um ihn vom Tische herunterzuziehen, wobei alles auf dem Tisch in Gefahr geriet. Alfred hatte unterdessen die Kartoffelschüssel zu sich herangezogen und legte sich, seine Hände als natürliche Löffel benutzend, nach Belieben vor.

Charlotte tat ihr Mögliches, um Ordnung zu halten, sie bat, sie ermahnte, sie schalt; alles umsonst. Da sprang der Doktor auf, griff nach einem hinter ihm auf dem Stuhl liegenden Stock und schlug blind zwischen die Kinder, unbekümmert darum, wen der Schlag treffe, wahrscheinlich in der Voraussetzung, daß er jedenfalls einen Schuldigen treffen werde. Die Kinder erhoben einstimmig ein wahres Zetergeschrei, welches, allmählich in die verschiedensten Tonarten übergehend, bei den kleinen Mädchen mehr als leises Schluchzen, bei den Knaben mehr wie verhaltenes Grollen, uns während der übrigen Mahlzeit als Tischmusik diente.

Daß mir unter diesen Umständen das Essen nicht besonders schmeckte, ist natürlich. Und als nach aufgehobener Tafel der Doktor, sich höflich verneigend, mir eine gesegnete Mahlzeit wünschte, machte dieser Wunsch einen besonders wohltuenden Eindruck auf mich, denn ich fühlte, daß hier zu einer bekömmlichen Mahlzeit der Segen Gottes doppelt notwendig sei, und erwiderte daher diesen Wunsch aus aufrichtigem Herzen.

Beim Abräumen des Tisches – woran ich mich schon etwas zu beteiligen wagte – fragte ich Charlotte, ob die Kinder am Sonnabend Abend auch gebadet würden. Sie antwortete etwas verlegen: „So lange Mutter gesund war, ist es geschehen, später aber unterblieben.“

Ich nahm mir vor, diese Gewohnheit baldigst wieder einzuführen. Als die Kinder zu Bett gebracht werden sollten, ging ich mit unter dem Vorwand, allmählich etwas die Hausordnung zu lernen, und erlangte auf diese Weise wenigstens ein gründliches Abseifen des Gesichts und der Hände bei den Kleinen.

Wieder ins Wohnzimmer zurückkehrend, fand ich Charlotte eifrig mit einem Kleide beschäftigt. Ich fragte, was sie mit dem Kleide beabsichtige. „Ach“, erwiderte sie, etwas verzagt, „ich bin aus allen meinen Kleidern herausgewachsen; auch dieses mein Sonntagskleid ist mir viel zu kurz und zu eng, ich muss es mir auf morgen weiter und länger machen, ich kann es so gar nicht mehr anziehen.“

Ich sagte, um das in befriedigender Weise tun zu können, müsse sie das Kleid anziehen, ich wolle dann sehen, wo es fehle. Zögernd kam sie meinen Worten nach, und ich sah hierbei, daß auch ihre Unterkleidung einer gründlichen Reparatur bedurfte.

Nach genommener Anprobe nahm ich das Kleid zu mir und sagte, sie möge sich nur schlafen legen, es sei schon spät; ich wolle das Kleid ändern, und morgen solle sie dasselbe fertig vorfinden.

Sie sah mich einen Augenblick unsicher an, dann sagte sie: „Das ist sehr freundlich von Ihnen, und ich bin gar nicht freundlich gegen Sie gewesen.“

Ich reichte ihr die Hand und entgegnete: „Das schadet für den Anfang nicht, das wird sich mit der Zeit schon ausgleichen.“

Charlotte ging zu Bett; und als ich später das geänderte Kleid auf ihre Kammer trug, hatte ich aufs neue Gelegenheit, einen Blick in einen kleinen Abgrund von Unordnung zu tun. Ich dachte an das, was mein Vater mir so oft von der Schlafkammer eines jungen Mädchens gesagt hatte, und hoffte auch hier auf bessere Zeiten.

Am anderen Morgen machten die Kinder in ihren Sonntagsanzügen und dank der gestrigen gründlichen Abseifung einen viel besseren Eindruck, als am Tage vorher. Daß es Sonntag sei, spürte man sonst weiter nicht im Hause, vom Kirchengehen war keine Rede. Ich dachte: „Mit Gottes Hilfe wird auch das kommen,“ und machte mich daran, dem Hause wenigstens im Äußeren etwas sonntägliches Aussehen zu geben. Charlotte hatte mir freundlich guten Morgen gesagt und sich des Kleides wegen bei mir bedankt.

Nach dem Frühstück, bei welchem der Doktor nicht zugegen gewesen, rief ich die Kinder zu mir und fragte sie noch einmal nach ihren Taufnamen, die sie jetzt wussten. Darauf sagte ich ihnen, daß ich „Tante Cornelia“ heiße, was sie zu befriedigen schien, und fügte hinzu, daß derjenige unter ihnen, welcher seine Geschwister von jetzt an nur bei ihrem Taufnamen nenne, ein kleines Geschenk von mir erhalten werde.

„Wenn wir es aber alle tun?“ fragte der kleine Alfred.

„Dann erhält jeder von euch ein Geschenk.“ Dieser Zusatz gefiel besonders, und jeder rief nun laut die Namen seiner Geschwister, um sich dieselben recht geläufig zu machen.


Die Mittagsmahlzeit verlief etwas weniger stürmisch, als die gestrige Abendmahlzeit, und ich dankte im Stillen Gott dafür. Nach dem Essen ging ich in mein Zimmer, um meine Sachen vollends auszupacken. Kaum hatte ich damit begonnen, als an meiner Tür geklopft wurde und Charlotte mit der Frage, ob sie mir ein wenig Gesellschaft leisten dürfe, zum mir ins Zimmer trat. Ich war durch dieses freundliche Entgegenkommen ihrerseits angenehm berührt, und bald fanden wir uns in einem lebhaften Gespräche. Ich zeigte ihr meine kleine Bildergallerie, die einen abermaligen Zuwachs in Daguerreotypen3 von Beata und meiner geliebten Cornelia erhalten hatte, und erzählte ihr aus meinem väterlichen Hause. Sie dagegen machte mich mit ihren Familienverhältnissen näher bekannt. „Meine älteste Schwester Lisette,“ sagte sie unter anderem, „ist an unseren Vetter Doktor Pillow verheiratet und wohnt uns gerade gegenüber in dem großen roten Hause. Als vor mehreren Jahren der zweite Arzt hier im Orte starb, veranlaßte Vater unseren Vetter Eduard Pillow, sich hier als Arzt niederzulassen, denn, sagte er, ein Verwandter ist als Konkurrent doch immer noch angenehmer, als ein Fremder. Es ist aber auch gut, daß sie die Kinder hat, denn ihr Mann ist fast nie zu Hause; sie würde sehr einsam sein, wenn sie die Kinder nicht hätte.“

„Doktor Pillow hat wohl eine sehr große Kundschaft?“ warf ich ein, als die Erzählerin schwieg.

„Das gerade nicht, er hat nicht so viel zu tun wie Vater, aber er ist doch nie zu Hause.“


Beim Nachmittagskaffee teilte mir der Doktor mit, daß er für seine Kinder eine Gouvernante engagiert habe, welche in etwa vierzehn Tagen eintreffen werde. „Mit dem Unterricht der Kinder hat es hier am Orte seine Schwierigkeiten,“ fügte er hinzu, „in den allgemeinen öffentlichen Schulen lernen die Kinder unseres Standes nicht genug, da bleibt denn nichts anders übrig, als in den sauren Apfel zu beißen und einen Lehrer oder eine Lehrerin ins Haus zu nehmen. Vorläufig, denke ich, genügt uns eine Lehrerin. Diejenige, welche ich engagiert habe, ist in einem Institute Mitteldeutschlands gebildet und muss ein riesig gelehrtes Frauenzimmer sein, wenn sie nur halb soviel weiß, als sie vorgibt zu wissen. Ihre Zeugnisse sind brillant.“

Am anderen Morgen schon begann ich, ermutigt durch Charlottes freundliches Entgegenkommen, meine Reformen im Haushalte und hatte die Befriedigung, daß Charlotte mir hierbei hilfreich zur Hand ging und sogar manchen Veränderungen ihre Anerkennung zollte.

Gegen Abend forderte Charlotte mich auf, sie zu ihrer verheirateten Schwester zu begleiten, um derselben meinen Besuch zu machen. Ich willigte gern ein.

Das erste Zimmer, welches wir betraten, schien das allgemeine Wohnzimmer zu sein; fröhlicher Kinderlärm bewillkommnete uns. Zwei wirklich allerliebste Kinder tummelten sich im Zimmer umher; die Gegenstände aber, deren sie sich zu ihren Spielen bedienten, erregten mein Bedenken. Das kleine Mädchen hatte eine Morgenhaube ihrer Mama in einen Wagen umgewandelt, darin eine ganze Familie kleiner Puppen plaziert, und fuhr nun diesen improvisierten Wagen, an welchem die Haubenbänder ganz von selbst sich als Deichsel ergaben, ihren Puppen ein lustiges Lied singend, im Zimmer umher. Einen wollenen Strumpf Papas, der im Fuße einige ungerechtfertigte Öffnungen zeigte, hatte die kleine sich als Zipfelmütze über den Kopf gezogen. Der Knabe ritt eine lange Pfeife des Papas als Steckenpferd, Kopf und Schwammdose der Pfeife lagen bereits zerbrochen in einem Winkel des Zimmers; ein Leihbibliotheksbuch, an einen Bindfaden gebunden, zog er als Wagen hinter sich her, und einen angefangenen Kinderstrumpf, der bereits bis zur Zehe gediehen war, aus dem er aber vorsichtig die Nadeln entfernt hatte, schwang er als Peitsche.

In dem Nebenzimmer, dessen Tür offen stand, saß eine Dame am Klavier und sang mit einer hübschen Sopranstimme das „erste Veilchen“ von Mendelssohn: „Als ich das Veilchen erblickt, wie war ich von Farben und Duft entzückt!“ Unwillkürlich musste ich denken, daß der Mann der Sängerin über das Bild im Vorzimmer weniger entzückt sein dürfte.

Die Dame erhob sich bei unserem Eintritt und begrüßte mich freundlich. Es war Frau Lisette Pillow. Sie entschuldigte ihren allerdings recht nachlässigen Anzug mit dem Umstande, daß sie versprochen habe, in dem am Mittwoch stattfindenden Liebhaber Konzerte mitzuwirken und nun die wenige Zeit, welche der Haushalt ihr lasse, benutzen müsse, um die vorzutragenden Sachen einzuüben. „In einem so abgelegenen Orte, wie unser B. ist,“ sagte sie, „erscheint es mir doppelt als Pflicht, den vorhandenen geringen Kunstsinn der Menschen zu pflegen und zu fördern und ein Opfer dieserhalb nicht zu scheuen.“

Ich nickte zustimmend mit dem Kopfe, denn im Allgemeinen konnte ich den ausgesprochenen Satz ja gelten lassen; aber ich musste dabei an die Haube, die Pfeife und den Strumpf im Vorzimmer denken.

Bei unserer Rückkehr hatte ich ein neues unerwartetes Schauspiel. Der Doktor, der, wie ich später erfuhr, nicht nur ein Musikfreund, sondern auch wirklicher Kenner der Musik war, saß am Klavier und spielte. Auf seinen Knien lag ein ungewöhnlich langer Rohrstock, den ich schon vorhin bei den Noten am Klavier bemerkt hatte, ohne mir seine Bestimmung erklären zu können. Hinter dem Doktor saßen die vier Kinder um den runden Sofatisch und spielten Lotto. Charlotte einen Wink gebend, setzte ich mich mit ihr still in eine Fensternische, um dem schönen Spiele des Doktors zu lauschen. Dieser Genuss war indes sehr beeinträchtigt durch den Lärm, den die Kinder beim Lottospiel machten; sie zankten und rauften sich. Der Doktor rief ein paar Mal mit donnernder Stimme sein „Stille!“ dazwischen, aber ohne Erfolg. Plötzlich, einige Taktpausen der linken Hand benutzend, ergriff er den auf seinen Knien liegenden Rohrstock und schlug, ohne sich umzusehen und mit der rechten Hand weiter spielend, über seine Schulter mehrere Male zwischen die Kinder. Diese schienen das Manöver schon zu kennen, denn sie duckten sich sehr geschickt unter den Tisch, so daß der Stock nur gefühllose Gegenstände traf. Erschrocken sprang ich auf, um ein Glas, welches auf dem Tische stand, zu retten und setzte mich dann an den Tisch, um die Kinder in der nötigen Ruhe zu erhalten, bis das Spiel beendigt sei.

Als der Doktor das Klavier geschlossen, sagte er, zu mir tretend: „Sie haben sich vielleicht über mein blindes Dreinschlagen gewundert; ich gebe auch zu, daß mir die rechte Gabe der Erziehung fehlt, aber meine Kinder scheinen mir auch ganz ungewöhnlich wild und ungehorsam zu sein, doch,“ setzte er tröstend hinzu, „wenn die Gouvernante kommt, dann wird es besser werden: die hat, wie sie ausdrücklich schreibt, Pädagogik studiert und muss also die Erziehung aus dem Fundament verstehen.“


Am Mittwoch Abend besuchten wir das Konzert, in welchem Frau Lisette verschiedene Stücke vortrug. Ihre Leistungen übertrafen meine Erwartungen weit; allgemeine Anerkennung wurde ihr gezollt. Aber es war kaum möglich, die jugendlich hübsche, von künstlerischer Begeisterung strahlende Frau in dem gewählten, kleidsamen Anzuge als diejenige wieder zu erkennen, welche mir vor wenigen Tagen in dem schmutzigen und zerrissen Hauskleide und dem nachlässig aufgestecktem Haar entgegengetreten war.

Am folgenden Abend war Doktor Pillow mit seiner Frau bei uns zum Tee. Im laufe des Gesprächs sagte ich zu dem Ersteren, daß ich ihn im Konzertsaale nicht bemerkt habe. Er erwiderte ironisch lächelnd: „Wem im eigenen Hause die Ohren voll gedudelt werden, wie mir, der sehnt sich wahrhaftig nicht noch nach einer Konzertaufführung!“

„Arme Frau,“ musste ich denken, „sind das die Erfolge Deiner Bemühungen, den Kunstsinn hier im Orte zu wecken und zu pflegen?“ Und mir fiel ein, was Sirach, der große Menschenkenner, im 25. Kapitel seines Buches schreibt: „Ein Weib, da der Mann keine Freude an hat, macht ihn verdrossen zu allen Dingen.“ Eine gewisse Verdrossenheit und ein Mißfallen an Allem war unverkennbar auf dem Gesichte des Doktors Pillow ausgeprägt, und ein Widerschein hiervon machte sich in unbewachten Augenblicken in den Zügen seiner Frau bemerkbar.


1)  Von Gottfried Arnold, 1666-1714

2)  Aus Prediger 1,9

3)  So wurden die Fotografien nach ihren Erfindern Daguerre genannt.


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