Licht von Oben - Buchdeckel

Einige notwendige Familiennachrichten

Ich, Cornelia Jocundus1, bin geboren im Jahre des Heils 1812, am Vormittage des ersten Advents, während in der nahen Anscharius-Kirche die Gemeinde sang:

„Das schreib dir in dein Herze,
Du hochbetrübtes Heer,
Bei welchem Gram und Schmerze
Sich häuft je mehr und mehr.“ 2

Zu diesem „hochbetrübten Heere“ zählte auch ich schon, sintemal ich jämmerlich weinend auf diese Welt gekommen bin. Diese Gesangsstrophe aber ist mir Zeit meines Lebens ganz besonders lieb und wert gewesen, und ich habe sie stets als meinen Empfangsgesang betrachtet.

Weil ich am ersten Advent geboren bin, so ist mein Geburtstag auch stets ohne Datumsberücksichtigung am ersten Advent gefeiert worden; und hierdurch ist es wahrscheinlich gekommen, daß von Kindheit an mein Interesse mehr dem kirchlichen, als dem bürgerlichen Jahre zugewendet gewesen ist.

Die meisten Menschen leben nur im bürgerlichen Jahre, ohne sich um das Kirchenjahr zu bekümmern, ja, ohne dasselbe einmal recht zu kennen. Und doch muss man dasselbe lieb haben, wenn man es in seiner Größe und Schönheit kennt.

Das bürgerliche Jahr mit seiner Einteilung nach Jahreszeiten und Monaten, mit seinen Kram- und Viehmärkten und dergleichen kommt mir vor wie eine Markthalle oder ein anderes Industriegebäude; wogegen das Kirchenjahr mit seinen Festen und Festzeiten sich wie ein gotischer Dom mit vielen Türmen und Türmchen vor meinem Geiste aufbaut.

Bei dem bürgerlichen Jahre ist, wie bei einem Industriegebäude, alles aufs Praktische gerichtet. Sie sind beide nur für dieses Leben bestimmt, deshalb sind ihre Hallen und Abteilungen auch nicht hoch, sondern ziehen sich lang und breit auf der Erde hin; sie entbehren jedes Schmucks und lassen den Beschauer kalt. Beim Kirchenjahr dagegen strebt und weist, wie bei einem gotischen Dome, alles von der Erde in die Höhe. Einen gotischen Dom kann man nicht betreten, ohne schon durch seine ganze Bauart und Einrichtung zur Andacht und Anbetung gestimmt zu werden. Der Gedanke, welcher seiner Entstehung zu Grunde liegt, ergreift auch uns und trägt uns mit sich fort. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Kirchenjahr3; haben wir uns erst in dasselbe hineingedacht und hineingelebt, dann staunen wir über die Schönheit und Großartigkeit seiner Einrichtung; der Gedanke, der dieses Gebäude erstehen ließ, erfasst uns und reißt uns zur anbetenden Bewunderung fort.

Mein Vater, Johann Caspar Jocundus, war Kantor an der St. Anscharius-Kirche hierselbst, welches Amt er zwanzig Jahre lang zur Zufriedenheit sowohl seiner Vorgesetzten, als auch der ganzen Gemeinde verwaltet hat.

Mein Vater war ein geborener Herrscher; in welcher Lebensstellung er sich auch befunden haben möchte, überall würde er sich Achtung und Respekt zu verschaffen gewußt haben. Schon seine äußere Erscheinung hatte etwas Ehrfurchtgebietendes; er war groß und kräftig gebaut, und sein Gang hatte etwas Militärisch-Straffes. In der Schule führte er ein unnachsichtlich strenges Regiment und schwang den „Stab Wehe“ mit besonderem Nachdruck. Aber sein großer Gerechtigkeitssinn, welcher kein Ansehen der Person kannte, gewann ihm das Vertrauen und daher auch die Liebe aller seiner Schüler.

Einst belauschte ich als Kind ein Gespräch zwischen zwei Knaben. Der eine hatte am Morgen „die ungebrannte Asche“, wie mein Vater Scherzweise den Stock zu nennen pflegte, in ungewöhnlich großer Portion zu kosten bekommen, und der andere drückte ihm nun hierüber sein Beileid aus, indem er sagte: „Heute Morgen hat's unser Kantor aber doch schier zu arg gemacht, er schien sich von Deinem Rücken ja gar nicht trennen zu können, worauf der erstere erwiderte: „Ja, es ist wahr, er hat mich barbarisch geschlagen, aber an seiner Stelle würde ich es nicht gelinder gemacht haben.“ Meine Mutter war eine zart gebaute, blass aussehende, sehr kränkliche Frau; sie passte so zu sagen nicht in ihre Verhältnisse. Da sie sich ihrer Gesundheit wegen nicht so um den Haushalt bekümmern konnte, wie es hätte geschehen müssen, so nahm derselbe auch keinen gedeihlichen Fortgang. Dies verstimmte meinen Vater, der durch und durch ein Mann der Ordnung und Pünktlichkeit war, oft tief; aber dennoch habe ich ihn gegen meine Mutter nie anders als freundlich und nachsichtig gesehen.

Wir waren unser sieben Geschwister. Die Einnahme meines Vaters aber schien nicht auf sieben Kinder und eine kränkliche Frau berechnet zu sein; und daher kam es, daß wir Kinder schon früh an Entbehrungen mancherlei Art gewöhnt wurden; aber auch lernten, in vielen Dingen uns selbst zu helfen und so zeitig für den Kampf dieses Lebens ausgerüstet wurden, was uns allen später trefflich zu statten gekommen ist.

Einst zerbrach unsere Gemüseschüssel, und da gerade Jahrmarkt war, so bat unsere Mutter den Vater, doch gleich eine neue Schüssel zu kaufen. Er tat es und stellte die heimgebrachte Schüssel mit den Worten auf den Tisch: „Diese Schüssel hat unser Herrgott ganz express für uns anfertigen lassen; schaut nur hinein, Kinder!“

Es stand aber in der Schüssel der Spruch Hebräer13,5: „Lasset euch genügen, an dem, was da ist.“

Wir Geschwister haben keinen leichten Lebensweg gehabt; in unserer Jugend zumal haben wir uns viel drücken und bücken, auch wohl stoßen lassen müssen; da wir aber nicht weichlich, sondern wetterhart waren, so haben wir uns durch alle Drangsale unverzagt hindurch geschlagen, und jetzt geht es allen, Gott sei Dank, sehr gut. Drei von uns haben schon heimkommen dürfen zur ewigen Ruhe, und denen geht es natürlich am besten; aber auch wir andern vier haben nur zu loben und zu danken. Meine älteste Schwester ist an einen wohlhabenden Kaufmann hier im Orte verheiratet; sie hat Kinder und Kindeskinder, und ihre behäbige Gestalt, sowie ihr freundliches, rundes Gesicht drücken die äußerste Zufriedenheit aus. Ein Bruder befindet sich in Amerika; auch ihm geht es, nach hartem Kampfe, jetzt sehr gut; er hat Frau und Kinder und ein blühendes Geschäft. Mein jüngster Bruder, nach meinem Vater Johann Caspar genannt, ist, wie mein Vater, Kantor an der hiesigen St. Anscharius-Kirche. Die Einnahme dieser Stelle ist seit dem Tode des Vaters bedeutend erhöht worden, so daß mein Bruder ohne Sorgen leben kann, obgleich er eine große Kinderschar besitzt.

Von seinen Kindern sind mir ganz besonders ans Herz gewachsen meine beiden Nichten Marie und Anna, welche zusammen ausgesprochen einen Namen - Marianne - bilden, als vorzüglich passend für sie.


1)  Die Erstausgabe dieser Biographie wurde 1878 anonym veröffentlicht. Die Autorin verwendet für die Namen aller Personen Pseudonyme, um deren Privatsphäre zu schützen.

2)  Von Paul Gerhard

3)  Im Kirchenjahr haben viele Sonntage einen lateinischen Namen; die Autorin verwendet oft diesen Namen um den Zeitpunkt eines Ereignisses mitzuteilen.


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