Licht von Oben - Buchdeckel

Mein erster Ausflug in die Welt

Als ich sechzehn Jahre alt war, wurde mein Vater von einem hitzigen Fieber ergriffen und starb nach acht Tagen. Wir waren Waisen. Unsere Finanzen standen schlecht; die kleine Witwenpension meiner Mutter reichte kaum für sie und die beiden jüngsten Geschwister; mein Bruder Johann Caspar zählte damals noch kein volles Jahr.

Meine älteste Schwester und ich sollten von Haus und uns unsern Unterhalt selbst verdienen, so bestimmte es der Vormund. „Für die drei Brüder muss Gott im Himmel Rat schaffen, ich weiß keinen,“ fügte er hinzu.

Und der große und barmherzige Gott wußte und schaffte Rat. Es fanden sich bald mehrere Familien, welche bereit waren, für ein „Vergelt's Gott“ an den armen Waisenknaben Elternstelle zu vertreten. So behielt meine Mutter nur die beiden jüngsten Kinder. Außerdem rührte Gott einer wohlhabenden Kaufmannswitwe das Herz also, daß dieselbe sich meiner Mutter freundlich annahm und mit ihrem Überfluss den Mangel unseres Hauses deckte. Meine Mutter hat nur noch einige Jahre gelebt, aber in diesen Jahren hat es ihr weder an teilnehmender Liebe, noch an Nahrung oder Kleidung gefehlt.

Der Stand der Witwen und Waisen hier auf der Erden ist ein sehr betrübter; wird der Versorger und Beschützer von einer Familie genommen, dann ist dieselbe nicht selten wie eine Herde ohne Hirten, wie ein Garten ohne schützenden Zaun. Das weiß unser Herrgott im Himmel und deshalb bekennt Er Sich in Seinem Worte so ausdrücklich zu diesem Stande, und umgibt denselben durch seine Verheißung wie mit einer Mauer, wenn Er 2.Mose 22, 22-23 spricht: „Ihr sollt keine Witwen und Waisen beleidigen. Wirst du sie beleidigen, so werden sie zu Mir schreien, und Ich werde ihr Schreien erhören.“

Diese Stelle bewegt mir noch jetzt das Herz, so oft ich dieselbe lese. Und nehme ich dazu, was Psalm 10,14 und Psalm 146,9 geschrieben steht: „Du bist der Waisen Helfer! - Der Herr behütet die Fremdlinge und Waisen und erhält die Witwen,“ dann sehe ich die Verheißung meines Gottes wie durch ein doppeltes Siegel bestätigt.

Auch an mir und meinen Geschwistern hat der Herr Seine Verheißung wahr gemacht. Fühlten wir auf der einen Seite die ganze Not und Bedrängnis des Waisenstandes, so durften wir auf der anderen Seite auch stets Gottes gnädige Durchhilfe erfahren. Der Herr lässt wohl sinken, aber doch nie ertrinken den, der sich auf Seine Barmherzigkeit verlässt.

Für meine Schwester und mich fanden sich Stellen. Meine Schwester sollte zu einem alten, kinderlosen Ehepaare, ich zu einer alleinstehenden, alten Dame ins Haus. Die Herrschaft meiner Schwester wohnte einige Meilen von hier auf dem Lande, die meinige in dem sechs Meilen1 von hier entfernten Städtchen X. Wir sollten unsere Stellen an ein und demselben Tage antreten.

Der Abend vor unserem Abschiede aus dem elterlichen Hause war ein sehr betrübter; meine Mutter war krank, und wir Kinder saßen an ihrem Bette und weinten.

Ehe wir uns zur letzten Nachtruhe im elterlichen Hause niederlegten, las meine Schwester laut den 42. Psalm: „Wie der Hirsch schreiet nach frischem Wasser, so schreiet meine Seele, Gott, zu Dir!“ Fand in diesem ersten Verse die Betrübnis und Angst unserer Seelen einen entsprechenden Ausdruck, so goß dagegen der zwölfte Vers mit seiner köstlichen Glaubenszuversicht neuen Mut und neue Hoffnung in unsere verzagten Seelen: „Harre auf Gott, denn ich werde Ihm noch danken, daß Er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist!“

Dieser Vers hat auch später in unzähligen Fällen seine trostreiche Kraft an mir bewiesen.

Als ich am andern Morgen Abschied von meiner Mutter nahm, konnte sie mir vor Weinen nichts anderes sagen, als diese Worte: „Harre auf Gott, mein Kind!“

Diese Worte sind zugleich ihr Vermächtnis an mich. Ich habe sie nicht wieder gesehen. Irdische Güter konnte meine Mutter uns nicht hinterlassen; diese Worte aber sind mir mehr wert gewesen, als Silber und Gold.

Es war ein kalter, unfreundlicher Aprilmorgen, an welchem ich in die Welt hineinfuhr. Eisenbahnen kannte man damals noch nicht. Zwischen hier und dem Städtchen X fuhr allerdings zweimal wöchentlich eine Post; aber dieses Beförderungsmittel, so wenig Bequemlichkeit es auch bot, galt doch für etwas, das sich nur Wohlhabende erlauben durften, und konnte daher für mich nicht in Betracht kommen. Die weniger Bemittelten, wenn sie einmal verreisen mussten, suchten sich eine so genannte „Fahrgelegenheit“, welche am häufigsten durch die vielen hier durchkommenden Frachtwagen geboten wurde. Eine solche „Fahrgelegenheit“ entbehrte allerdings weit mehr noch als die Posten jeglicher Bequemlichkeit, war aber ihrer Billigkeit wegen für Jeden leicht erschwinglich.

Gegen eine sehr geringe Vergütung ließ sich ein Salzfuhrmann, der wöchentlich einmal nach X fuhr, bereit finden, mich und meine wenigen Habseligkeiten mitzunehmen. Mein kleiner Koffer wurde oben auf die Salzladung gestellt und ich aufgefordert, neben dem Fuhrmann auf einem quer über den Wagen gelegten Brette Platz zu nehmen.

Da saß ich nun in meinen kleinen, dünnen Mantel gehüllt und fuhr allein in die weite, unbekannte Welt hinein, über mir den grauen Himmel, der seiner Stimmung in den einzelnen Regentropfen Luft machte, neben mir den schweigsamen Fuhrmann und in mir eine namenlose Traurigkeit!

Der Weg von hier nach X, den man jetzt per Eisenbahn in einer guten Stunde zurücklegt, nahm damals, einschließlich des nötigen und unnötigen Aufenthalts in den verschiedenen Wirtshäusern, sieben bis acht Stunden in Anspruch.

Doch auch diese Stunden, so lang sie mir wurden, nahmen ein Ende; der Turm des Städtchens X tauchte vor uns auf, und bald rasselten wir über das holprige Straßenpflaster dahin. Mein Fuhrmann, mit dem ich während der langen Fahrt allmählich etwas bekannter geworden war, und der mir beim Frühstück sogar eine kleine „Herzstärkung“ aus seiner Branntweinflasche angeboten hatte - die jedoch von mir dankend abgelehnt worden war - erbot sich, mich vor das Haus meiner alten Dame zu fahren. Wir hielten still, ich stieg ab, der Fuhrmann setzte meinen kleinen Koffer vom Wagen, wünschte mir alles Wohlergehen, lüftete ein wenig seine Pudelmütze und fuhr davon.

Da stand ich nun mutterseelenallein mit meinem kleinen Koffer auf der Straße vor einem großen, düster aussehenden Hause. Ich fühlte mich in diesem Augenblicke unsäglich verlassen und elend. Ich hätte mich auf meinen Koffer setzen und weinen mögen; doch brachten mich noch rechtzeitig einige Kinder, welche stehen blieben und mich neugierig beobachteten, auf bessere Gedanken. Ich begriff, daß es klug sein würde, diesem Zustande so rasch wie möglich ein Ende zu machen; mit dem Mute der Verzweiflung ergriff ich daher den großen, messingnen Türklopfer und klopfte.

Nach einer Weile wurde die Haustür geöffnet, und eine alte, sehr mürrisch aussehende Frau in einer ungeheuren Haube steckte den Kopf auf die Straße, musterte mich und meinen kleinen Koffer uns fragte dann:

„Sie sind wohl die neue Jungfer, welche meine Herrschaft erwartet?“

„Ja, ich glaube,“ stotterte ich schüchtern.

„Na, dann fassen Sie nur Ihren Koffer mit an, hier auf der Straße können Sie doch nicht stehen bleiben.“

Ich gehorchte, und wir trugen den Koffer ins Haus und mehrere Treppen hinauf bis auf den Boden. Hier öffnete meine Gefährtin eine Tür, wies in eine kleine niedrige Dachkammer und sagte:

„Dies wird Ihre Schlafstätte sein. Wenn Sie sich ein wenig zurecht gemacht haben, kommen Sie herunter, ich werde Sie dann zu meiner Herrschaft bringen.“

Damit ging sie, und ich musterte nun meine neue „Schlafstätte“. Zwar war ich in meinem elterlichen Hause weder Luxus noch Komfort irgend einer Art gewöhnt; die Ausstattung meines künftigen Schlafkämmerchens aber wollte mir dennoch als allzu uranfänglich erscheinen. Unwillkürlich musste ich an Diogenes2 denken, denn der Grundsatz dieses alten Weisen, daß der am glücklichsten sei, der die wenigsten Bedürfnisse habe, fand hier seinen tatsächlichsten Ausdruck. Die ganze Ausstattung dieser Kammer bestand nämlich in einem Bett, das, wie ich mich am Abend überzeugte, nur sehr unzulängliche Bestandteile enthielt, einem dreibeinigen, hölzernen Bock, die Stelle eines Stuhles vertretend, und einen kleinen Tisch, der seinem mitgenommenen Aussehen nach schon manchen Stoß ausgehalten haben musste; ein Bein desselben war bedeutend kürzer, als die andern, weshalb, um das nötige Gleichgewicht herzustellen, ein Holzklotz unter dasselbe geschoben war. Auf dem Tischchen stand einsam eine zinnerne Waschschale, die, was den Kampf ums Dasein betrifft, ihrem Träger jedenfalls ebenbürtig an die Seite gestellt werden durfte; denn in meinem ganzen Leben ist mir nie wieder ein Gefäß mit so vielen Beulen und Schrammen vorgekommen, wie diese Waschschale aufzuweisen hatte. Nach einem Spiegel sah ich mich vergebens um.

Nachdem ich Mantel und Hut an einen Nagel an die Wand gehängt hatte - eine Garderobe oder gar ein Kleiderschrank würde natürlich in diese Diogeneseinrichtung nicht gepasst haben - setzte ich mich, müde an Seele und Leib, auf meinen Koffer. Am liebsten wäre ich in diesem Augenblicke gestorben; da hierzu aber trotz aller Müdigkeit noch keine Aussicht vorhanden war, so hätte ich wenigstens gern einmal gründlich geweint. Aber auch das ging nicht, denn in wenigen Augenblicken sollte ich vor meiner Herrschaft erscheinen, und die alte Dame konnte möglicherweise eine Abneigung gegen rot geweinte Augen haben. Ich besann mich also auch hier eines andern, öffnete meinen Koffer und nahm ein kleines Kruzifix - das letzte Weihnachtsgeschenk meines Vaters - heraus, um es über meinem Bette aufzuhängen. Einen Nagel hatte ich vorsorglich zu diesem Zwecke mitgenommen; aber womit denselben einschlagen? Ratlos blickte ich umher, da fiel mein Blick auf den Holzklotz; erfreut bückte ich mich und zog denselben unter dem Tischbein hervor, indem ich dachte: „Wenn jeder Mangel in diesem Hause sich so zum Nutzen verwenden lässt, dann soll es schon gehen!“

Als das Kruzifix über meinem Bette hing, erschien mir die Kammer schon um ein Bedeutendes wohnlicher; andächtig kniete ich vor meinem Bette nieder, um durch mein erstes Gebet diese Kammer zu meinem kleinen Separatheiligtum einzuweihen und gleichsam von demselben Besitz zu ergreifen. Aber meine Gedanken waren durch die vielen neuen Eindrücke so verwirrt, daß ich sie nicht zu einem zusammenhängenden, freien Gebete zu sammeln vermochte. Unwillkürlich kam mir der Abschiedsspruch meiner Mutter auf die Lippen: „Harre auf Gott, denn ich werde Ihm noch danken, daß Er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist!“3

Der barmherzige Gott musste wohl ein gnädiges Amen zu dem Seufzen meines Herzens gesprochen haben, denn ein wunderseliger Friede kam über mich; gestärkt und getröstet erhob ich mich und stieg wenige Augenblicke später entschlossen die Treppe hinunter.

Die alte Dienerin erwartete mich schon, ungeduldig auf der Hausflur hin und her trippelnd. Behutsam und leise öffnete sie eine mit grünem Tuch beschlagene Tür, dann eine zweite, und ich stand vor meiner Herrschaft.

Das Gemach, in welchem ich mich befand, war groß und geräumig, und seine Einrichtung erinnerte in nichts an den Geschmack des Diogenes, entsprach vielmehr allen Anforderungen der Behaglichkeit und Bequemlichkeit. In einem großen, wohlgepolsterten Lehnstuhle saß mit einem mich boshaft anfletschenden Mops auf dem Schoß in einer tiefen Fensternische meine Herrin, Mamsell - die Titulatur „Fräulein" war damals noch nicht Sitte - Josephine Mummel.

Schüchtern blieb ich an der Tür stehen und machte eine Verbeugung, welche jedoch, trotz der im vergangenen Winter erhaltenen Tanzstunden, gänzlich missglückte.

Mamsell Mummel betrachtete mich durch ihre große hörnerne Brille eine Weile, dann sagte sie nicht unfreundlich: „Treten Sie näher!“

Ich gehorchte. Der Mops ließ ein unwilliges Knurren hören, und sein boshaftes Gesicht verzerrte sich noch mehr. Seine Herrin streichelte ihn und suchte ihn durch Schmeichelnamen zu besänftigen. Eine Pause in ihren Liebkosungen benutzend, sagte sie zu mir:

„Nehmen Sie einen Stuhl und setzen Sie sich zu mir.“ Ich tat es. Das Knurren des Mopses ward drohender.

„Minörken, mein Liebchen, sei ruhig!“ bat Mamsell Mummel. „Wie heißen Sie doch, mein Kind?“

„Cornelia!“

„Cornelia ist ein alberner Name, auch viel zu lang, zumal in den kurzen Wintertagen. - Minörken, sei gut, mein Engel! - Ich werde Sie Nelly nennen. - Aber Minörken, mein Herzchen, so sei doch lieb und freundlich, wie du es sonst bist! Sieh, Süßchen, das ist deine künftige Gespielin, Mamsell Nelly!“

Obgleich ich nicht einzusehen vermochte, weshalb der Name Nelly weniger albern sei, als Cornelia, so war mir, in diesem Augenblicke wenigstens, diese Veränderung meines Namens doch ziemlich gleichgültig; weniger gleichgültig war es mir indes, dem hässlichen Mops als „seine Gespielin“ vorgestellt zu werden.

Aber Mamsell Mummel ließ mir keine Zeit, meinen empörten Empfindungen nachzuhängen; sie begann, mir meine künftigen Pflichten und Obliegenheiten herzuzählen. Es war deren eine ganz unendliche Menge; mir wurde beinahe schwindlig, doch versprach ich alles zu tun, was ich könne, bat aber zugleich um Nachsicht, falls ich anfangs etwas vergessen sollte.

Sie antwortete: „Ich hoffe, Nachsicht wird nicht nötig sein, denn Sie sind noch jung, und in der Jugend hat man ein gutes Gedächtnis. Außerdem ist es so wenig, was in meinem Dienste von Ihnen verlangt wird, daß Sie nichts zu vergessen brauchen.“

Hiermit und mit der Weisung, mir von Lotte, der alten Dienerin, nähere Instruktionen über Kaffe- und Teebereitung geben zu lassen, wurde ich entlassen.

Lotte empfing mich mürrisch, und ihre Instruktionen fielen sehr dürftig aus; sie schien mich als einen Eindringling in ihre Rechte zu betrachten.

Mittlerweile war die Teestunde herangekommen; Lotte brachte auf einem ungeheuren Teebrette alles zum Abendessen erforderliche auf einmal in die Stube; und nicht ohne inneres Zagen und Zittern begab ich mich an meine erste Dienstleistung.

Mamsell Mummel siedelte nun mit Minörken vom Lehnstuhle nach dem Sofa über und überwachte von hier aus mit ihren stechenden, grauen Augen jede meiner Bewegungen. In einem kleinen, silbernen Teetopfe, welcher genau zwei Tassen fasste, musste ich zuerst den Tee für meine Herrin bereiten, den sie sich mit dazu gehörenden Butterbroten und Zwiebäcken, nebst einer ansehnlichen Portion Belegen verschiedener Art, vortrefflich schmecken ließ.

Während dieser Zeit durfte ich dabei sitzen und an einer Unterjacke für meine Herrin stricken. Nachdem diese sich so recht mit Wohlgefallen gesättigt hatte und nun mit dem Ausdrucke völliger Befriedigung sich zurücklehnte, durfte ich den Teetopf noch einmal mit kochendem Wasser füllen, und diese zweite verdünnte Auflage war für Minörken und mich bestimmt. Minörken bekam seine Portion Tee mit Zwiebäcken in einer zierlichen, mit Blumen bemalten Porzellanschale in einer Ecke des Zimmers serviert, während ich die meinige aus einer recht ordinären Tasse ohne Henkel zu mir nahm. Für mich lag außerdem eine dicke Brotschnitte auf dem Brette, welche ich mir ganz dünn mit Butter bestreichen durfte, von einem Beleg war keine Rede.

Während ich mein bescheidenes Abendbrot zu mir nahm, hielt Mamsell Mummel mir eine kleine diätische Vorlesung des Inhalts, daß es am besten sei, sich Abends nur halb satt zu essen, und daß besonders die Jugend in diesem Punkte gar nicht vorsichtig genug sein könne.

Als auch Minörken und ich unsere Mahlzeit beendigt hatten, und Lotte das Teegeschirr fortgenommen, sagte Mamsell Mummel: „Jetzt wollen wir unsere Abendandacht halten und zu Bette gehen.“

Durch diesen Ausspruch meiner Herrin wurde ich sehr angenehm überrascht, denn ich dachte: „In einem Hause, in welchem Andachten gehalten werden, muss es sich doch immerhin leben lassen.“ Aber diese angenehme Empfindung wurde durch das nun Folgende nicht nur bedeutend herabgestimmt, sondern in das gerade Gegenteil verwandelt. Ich musste meiner Herrin das Andachtsbuch reichen, es war Witschels „Morgen- und Abendopfer“, und zugleich Minörken auf ihren Schoß setzen; derselbe war nämlich so dick, daß er den Sprung auf den Schoß seiner Freundin nicht mehr machen konnte. Er legte sich jetzt nicht auf ihrem Schoß nieder, sondern legte sitzend seine beiden Vorderpfoten auf den Tisch, sein schwarzes, hässliches Gesicht über dem aufgeschlagenen Buche schnuppernd hin und her bewegend. Mamsell Mummel las nun in ihrer dünnen, scharfen Stimme schnell und monoton den Abendsegen; darauf küsste sie Minörken auf seinen dicken Kopf und sagte: „Was meinst du Minörken, mein Herzchen, lesen wir jetzt auch gleich unseren Morgensegen?“

Minörken schien einverstanden, und Mamsell Mummel las nun auch den folgenden Morgensegen. Ich war von dem, was ich sah und hörte, so verwirrt und entsetzt, daß von dem Gelesenen kein Wort in meine Seele drang.

Als Mamsell Mummel das Buch zugemacht und ihre Brille abgenommen hatte, wünschte sie Minörken unter den zärtlichsten Liebkosungen eine gute Nacht und übergab ihn mir, um ihn zu Bett zu bringen. Minörken schlief in der Kammer seiner Freundin in einem zierlichen Korbe und wurde mit einer kleinen blauseidenen Steppdecke zugedeckt.

Dieses besorgt, durfte ich meiner Herrin beim Auskleiden behilflich sein, wobei dieselbe indes mehrere Male Veranlassung hatte, über meine Ungeschicklichkeit zu klagen.

Das Bett, welches meine Herrin zur Nachtruhe aufnehmen sollte, hatte in meinen Augen etwas Ungeheuerliches, denn es glich mehr einem Turme, als einem Bette, so viele Kissen und Pfühle waren aufeinander gehäuft. Um in dieses Federmeer hinein zu gelangen, musste eine kleine Trittleiter benutzt werden. Auf meine Schulter gestützt, erstieg Mamsell Mummel dieselbe und versank dann mit einem Seufzer ins Federmeer, mir aus dessen Tiefe mit halb erstickter Stimme noch eine gnädige „gute Nacht“ zurufend.

Ich war entlassen; geflügelten Schrittes eilte ich die Treppe hinauf in mein Kämmerchen. Die dürftige Ausstattung desselben starrte mich diesmal schon nicht mehr so kalt und frostig an, wie das erste Mal, denn das Kruzifix an der Wand breitete mir seine Arme entgegen, und mein erstes Gebet durchwehte noch wie ein warmer Hauch das Gemach. Ich nahm meine kleine Bibel und las den dreiundzwanzigsten Psalm: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Dann befahl ich mich und meine Lieben dem gnädigen Schutze des allmächtigen Gottes und suchte mein Nachtlager auf. Obgleich dasselbe nur ärmlich ausgestattet war, so betteten doch Müdigkeit und Jugendkraft mich weich und warm. Ich fiel bald in einen festen, gesunden Schlaf, in welchem freundliche Traumgestalten mich umgaben und mich zu meinen Lieben in die Heimat führten.

Meine Geschwister und ich saßen in einem Kahn, welcher, von unsichtbarer Hand geleitet, auf einem großen, spiegelklaren See ruhig dahin glitt. Wir waren sehr vergnügt, wir lachten und scherzten. Plötzlich erhob sich ein heulender Sturm; unser kleiner Nachen ward gewaltsam hin und her geschleudert; ich hielt mich krampfhaft am Sitzbrett fest, um nicht über Bord geworfen zu werden.

Da erwachte ich und blickte in das mürrische Gesicht der alten Lotte, deren Hand meine Schulter erfasst hatte und mich heftig im Bette hin und her schüttelte. Mit ihrer heiseren Stimme rief sie mir ins Ohr:

„Aber, Mamsell Nelly, Sie haben ja einen Bärenschlaf! Einen solchen können wir hier nicht gebrauchen. Beeilen Sie sich in die Kleider zu kommen; es ist höchste Zeit!“

Erschrocken und verwirrt sprang ich aus dem Bette und stand wenige Minuten darauf in dem Schlafgemache meiner Herrin.

Mein Morgengruß blieb unerwidert statt dessen ward mir aus der Tiefe des Federberges - zu sehen vermochte ich niemand - ein Verweis meines späten Erscheinens wegen, mit der daran geknüpften Ermahnung, mich nie wieder einer solchen Pflichtverletzung schuldig zu machen.

Gern hätte ich meiner erzürnten Herrin erzählt, wie glücklich ich im Traume daheim mit meinen Lieben gewesen; eine instinktmäßige Klugheit ließ mich indes schweigen. Dagegen begann ich, innerlich zwar etwas schaudernd, äußerlich aber mit einer gewissen Todesverachtung mein Tagewerk, dessen erstes Stück darin bestand, Minörkens Toilette zu besorgen. Ich musste das dicke, unbehilfliche Tier auf meinen Schoß nehmen, es sorgfältig kämmen und bürsten und ihm mit einem kleinen Schwamm das hässliche Gesicht waschen, was nicht ohne Knurren und Zähnefletschen seinerseits abging. Jedes Knurren des Hundes fand Wiederhall im Federberge, aus dessen Tiefe - zu sehen vermochte ich noch immer niemand - auf jedes Knurren ein Seufzer über meine Ungeschicklichkeit als Echo zu uns zurücktönte.

Als ich fertig war und Minörken auf die Erde setzte, teilte sich der Federberg seitwärts etwas, und Mamsell Mummels Kopf kam zum Vorschein. Als ihr Blick über Minörkens runde, blankgeputzte Gestalt glitt, legte sich ein zufriedenes Lächeln um ihren Mund, und sie sagte wohlwollend zu mir: „Ich hoffe, Minörken wird Sie mit der Zeit lieb gewinnen, es ist so ein süßes Tier!“

Jetzt musste ich meiner Herrin selbst beim Aufstehen und Ankleiden behilflich sein. Das Erstere war, wie das Erklimmen des Federberges am Abend, nicht ohne Schwierigkeit, und meine Herrin, die sich beim Herabsteigen der kleinen Trittleiter mit dem ganzen Gewicht ihrer nicht unbeträchtlichen Körperfülle auf meine Schulter stützte, hatte Veranlassung, sich über die Schwächlichkeit meines Körpers, in dessen Knochen gar kein Mark zu sein scheine, zu wundern. Bei dem Ankleiden dagegen hatte ich Gelegenheit, mich zu wundern - natürlich ganz in der Stille - über die Menge der Toilettenkünste, welche ich hier in Anwendung gebracht sah, und von deren Existenz ich bis dahin keine Ahnung gehabt hatte. Als meine Herrin nach etwa einer Stunde frisiert und angekleidet vor mir stand, fiel mir ein Reim ein, den ich einmal als Kind auf einem Bilderbogen gelesen hatte: „Als Raupe aus dem Bette und als Schmetterling von der Toilette.“

Nun begaben wir uns alle Drei, Minörken voran, in das Wohnzimmer, wo Lotte den Kaffeetisch zierlich und einladend gedeckt hatte. Ich bereitete den Kaffee zuerst für meine Herrin, und als diese drei Tassen nebst einer nicht unansehnlichen Menge leckeren Weißbrotes in großer Seelenruhe und Behaglichkeit zu sich genommen hatte, durfte ich einen zweiten Aufguss für Minörken und mich machen. Der erstere erhielt eine Portion mit Zucker, Rahm und Zwiebäcken angerichtet, ich dagegen nahm die meinige ohne Zucker, mit etwas dünner Milch versetzt, nebst einer dicken Scheibe Roggenbrot, die ich mir auf Mamsell Mummels Anraten - weil alles Fette der Jugend sehr schädlich sei - nur fast unsichtbar mit Butter bestrichen hatte, zu mir.

Als wir alle mit dem Frühstück fertig waren, musste ich den Tisch abräumen, wobei die grauen Augen meiner Herrin mich scharf beobachteten. Als ich die Zuckerdose erfasste, um dieselbe in einen im Zimmer befindlichen Schrank zu setzen, sagte sie: „Es sind noch acht Stück Zucker in der Dose, nicht wahr, Mamsell Nelly?“

Hierauf setzte sich meine Herrin in ihren großen Lehnstuhl am Fenster, und ich musste ihr Minörken auf den Schoß geben, mit dem sie sich nun wohl eine Stunde lang liebkosend unterhielt. Dabei warf sie von Zeit zu Zeit einen prüfenden Blick auf die Straße oder in den am Fenster befestigten so genannten „Spion“ und machte irgend eine Bemerkung über die Vorübergehenden, die indes mit der Lutherischen Erklärung des achten Gebots: „Alles zum Besten kehren,“ nichts gemein hatte.

Ich erhielt eine Näharbeit und musste mich ihr gegenüber in die andere Fensternische setzen. Um mich der Versuchung zu überheben, auch zuweilen einen Blick auf die Straße zu werfen, war vor meinem Fenster eine kleine Mullgardine gezogen.

Diese Handarbeitsstunden, welche bis Mittag dauerten, waren mir verhältnismäßig angenehm, denn meine Herrin beanspruchte meine Unterhaltung nicht und richtete auch nur selten eine Frage an mich; ich konnte also meine Gedanken, während meine Hände eifrig nähten - und fleißig musste ich sein, denn die grauen Augen mir gegenüber sahen jede meiner Bewegungen - spazieren schicken. Dieselben schweiften natürlich hinüber in die Heimat, und ich malte mir den schönen Traum, aus dem ich am Morgen so unsanft aufgeweckt worden, nach Gefallen weiter aus.

Um zwölf Uhr musste ich den Tisch decken, und wir setzten uns zu unserm Mittagsmahl nieder. Ein Tischgebet, wie ich es zu Hause gewohnt gewesen, war hier nicht Sitte. Das Essen war viel, viel besser, als ich es je zu Hause bekommen, und doch schmeckte es mir nicht halb so gut, wie es daheim der Fall gewesen.

Zuerst musste ich eine Portion Fleisch sehr fein schneiden und dieselbe mit Bouillon und Weißbrot in der blumenbemalten Porzellanschale für Minörken anrichten. Dann bekam auch ich mein Teil. Meine Herrin war so gütig, mir eine zweite Fleischportion anzubieten, die ich aber in der Voraussetzung, daß äußerste Bescheidenheit von mir erwartet werde, dankend ablehnte. Meine Herrin nahm diese Ablehnung augenscheinlich sehr gut auf. Während sie sich eine dritte ansehnliche Fleischportion auf den Teller legte, sagte sie, indem ihr Blick beinahe wohlwollend über meine schmächtige Gestalt glitt:

„Ich sehe mit Vergnügen, Mamsell Nelly, daß Sie wissen, was der Jugend ansteht; nichts ziert ein junges Mädchen mehr als Bescheidenheit; und durch Mäßigkeit in der Jugend erwerben wir uns ein gesundes und kräftiges Alter. Wie manches junge Mädchen hat nicht schon durch Unmäßigkeit im Essen und Trinken ihre schlanke Taille und ihren feinen, weißen Teint eingebüßt! Sie haben sich bis jetzt beides bewahrt, fahren Sie also fort, mäßig und bescheiden zu sein!“ - „Minörken, mein Engel,“ und hiermit wandte sie sich an ihren dicken Mops, der schwanzwedelnd und zähnezeigend zu ihr herkam, „du möchtest doch noch ein Häppchen Fleisch, nicht wahr? Die Ente ist zart und fett, und Lotte hat sie uns vortrefflich gebraten. Mamsell Nelly, schneiden Sie doch dem Kleinen noch dieses Stück.“

Nach dem Essen musste ich meine Herrin zur Nachmittagsruhe auf das Sofa betten. Hierzu war eine ganz erstaunliche Menge Decken und Kissen der verschiedensten Größe erforderlich; und diese Arbeit ging nicht ohne einige stille Seufzer meinerseits und verschiedene laut geäußerte Klagen über meine Ungeschicklichkeit ihrerseits von statten. Als meine Herrin endlich ganz nach Gefallen gebettet und zugedeckt war, war nichts mehr von ihr zu sehen.

Ich erhielt den Befehl, mit Minörken bis drei Uhr spazieren zu gehen, „denn,“ schloss meine Herrin, „nach Tisch, das merken Sie sich, muss ich meine ungestörte Ruhe haben.“

Mit diesem Bescheide war ich wohl zufrieden; ich setzte meinen Hut auf und trat mit Minörken, den ich zu diesem Zwecke an eine rote Leine nehmen musste, meinen Spaziergang an.

Zunächst wanderte ich durch die Hauptstraßen des Städtchens, um mir dasselbe zu besehen. Unsere Promenade nahm aber nur langsamen Fortgang, denn Minörken hatte bei seiner Körperfülle und nach dem opulenten Mittagsmahl viel mehr Neigung zur Ruhe, als zu Bewegung. Er legte sich häufig nieder und ließ sich dann nur schwer zum Weitergehen bewegen.

An einer Straßenecke begegneten uns mehrere Knaben; der eine rief: „Sieh da, Mummel's Minörken mit seiner neuen Mamsell!“ Hierauf riefen alle Hurra! Und fingen an, Minörken zu necken und zu zerren. Der Hund bellte, fletschte die Zähne und riss wütend an der Leine. Ich befand mich in einer üblen Lage; bald versuchte ich die Knaben zu bewegen, von ihren Neckereien abzulassen, bald suchte ich Minörken zu besänftigen, aber beides vergebens. Da nahm ich als letztes Rettungsmittel den dicken hässlichen Mops auf meinen Arm und suchte das Weite. Ich verließ die Stadt und wanderte nun ungesehen und ungestört zwischen Gärten und Hecken. Als die Turmuhr halb drei schlug, machte ich mich auf den Rückweg, denn soviel hatte ich schon gemerkt, daß meine Herrin neben Mäßigkeit und Bescheidenheit die Pünktlichkeit als eine Hauptzierde der Jugend schätzte.

Ich kam auch gerade rechtzeitig, um die soeben vom Schlaf Erwachte aus den vielen Decken und Kissen wieder herauszuschälen.

Unsern Nachmittagskaffee nahmen wir in der schon bekannten Reihenfolge zu uns; dann musste ich mich zu meiner Herrin an das Fenster setzen und ihr vorlesen.

Eine Hauptbedingung bei meinem Engagement war gewesen: „Die Mamsell, welche ich zu meiner persönlichen Bedienung ins Haus nehme, muss verständlich und geläufig französisch vorlesen können.“

Dies konnte ich, denn mein Vater, der in seiner Jugend mehrere Jahre in Frankreich gewesen war, hatte meiner älteren Schwester und mir französische Stunden gegeben. Lesen hatte ich in diesen Stunden gelernt, von der Grammatik aber nur wenig begriffen; und das war mein Glück, denn die Romane, welche ich meiner Herrin vorlesen musste, gehörten, wie ich später begriff, zu den allerverwerflichsten der französischen Literatur. Hätte ich verstanden, was ich vorlas, so würde meine Seele ohne Zweifel Schaden genommen haben, aber so glitt das Gelesene wie ein vergifteter Strom an mir vorüber, ohne mich zu berühren. Und während die verderbte Phantasie meiner Herrin an leichtfertigen Bildern sich ergötzte, blieb meine junge Seele, Gott sei Lob und Dank für seine Gnade, bewahrt vor solchem Schmutze.


1) Die Länge einer Meile betrug ca. 7,4 - 7,5 Kilometer

2) Diogenes von Sinope ca. 399-323 v.Chr. ist sprichwörtlich für seine Bedürfnislosigkeit. Bekannt ist die Anekdote, dass er in einer Tonne gelegen habe, wo König Alexander der Große ihn besuchte und fragte, was für einen Wunsch er ihm erfüllen könne. Worauf Diogenes antwortete: „Geh mir aus dem Lichte.“

3) Psalm 42,11


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