Licht von Oben - Buchdeckel

Fernere Erlebnisse in B.

Nach Fräulein Glitzermeyers Abschied wehte kein Geist der Gelehrsamkeit mehr durch unser Haus, es war aber dafür doppelt gemütlich geworden. Der Doktor rieb sich einmal über das andere vergnügt die Hände, indem er sagte: „Es ist doch unglaublich, welche Unruhe so ein gelehrtes Frauenzimmer ins Haus bringt!“

Mit dem Unterricht der Kinder ging es auch ohne die gelehrte Gouvernante ganz gut. Ich hatte mich sehr bald mit den Kindern eingelebt; sie waren folgsam und fleißig und machten genügende Fortschritte. Die Stunden, welche ich nicht geben konnte und mochte, übernahm ein Lehrer im Orte.

Es herrschte Friede und Fröhlichkeit im Hause. Wir alle fühlten uns am wohlsten daheim; unser Familienleben war sichtlich im Aufblühen begriffen.

So stand es bei uns. Im Hause des Doktor Pillow dagegen sank das Barometer häuslichen Glückes tiefer und tiefer und stand nicht selten auf Sturm und Ungewitter. Mein alter Doktor war über das häusliche Leben seiner Tochter, obgleich er nur das wenigste aus demselben erfuhr, sehr betrübt und sagte einmal zu mir: „Ich habe es so gut gemeint, als ich den Eduard hieher rief; aber die Beiden scheinen gar nicht zu einander zu passen, obgleich sie sich als Brautleute so lieb hatten. Es ist traurig, daß auch die Liebe, die doch das Höchste hier im Leben ist, so selten Bestand hat!“

Der liebe alte Doktor! Er kannte die Liebe, welche ewig ist und in welcher allein alle irdische Liebe Bestand zu gewinnen vermag, auch noch nicht, und deshalb beurteilte er die häuslichen Verhältnisse seiner Tochter so durchaus unrichtig.

Es ist mir überhaupt auf meinem Gange durch dieses Leben eine auffallende Wahrnehmung gewesen, wie verschieden oft ein und dieselbe Sache von den verschiedenen Menschen beurteilt wird. Lange habe ich mir diese Erscheinung nicht zu erklären vermocht, bis es mir klar ward, daß es zwei ganz entgegengesetzte Standpunkte gibt, von denen aus die Dinge betrachtet werden können.

Der eine Standpunkt ist die Höhe des göttlichen Wortes. Von diesem aus gewinnen wir eine weiten Überblick, denn das Licht der ewigen Wahrheit erhellt die Gegend; der Sehwinkel aber, in welchem uns alle, auch die geringfügigsten Dinge erscheinen, ist immer ein und derselbe; er ist der vom Worte Gottes selbst bestimmte, und daher macht uns die Beurteilung scheinbar verwickelter Verhältnisse von diesem Standpunkte aus wenig Schwierigkeiten.

Der andere Standpunkt, von welchem aus die Dinge betrachtet werden können, ist das Tal der eigenen Meinung. Das Licht, welches hier die Gegenstände erhellt, ist der menschliche Verstand. Dieses an und für sich schon nicht sehr helle Licht wird dadurch noch mehr getrübt, das es Reflexlicht ist. Das Tal wird nämlich begrenzt und eingeengt durch verschiedene eingebildete Höhen, als da sind: Vorurteile verschiedener Art von lichter und dunkler Farbe, menschliche Autorität, Eitelkeit, Selbstsucht u. Dergleichen. Diese Höhen werfen das Licht des menschlichen Verstandes zurück und machen es dadurch unsicher und blendend. Die Gegenstände, welche von diesem Licht beleuchtet werden, erscheinen daher auch notwendig in unbestimmten, schwankenden Umrissen. Dazu gibt es in diesem Tale so viele Sehwinkel, wie es Menschen gibt, denn jeder hat da seinen eigenen von ihm selbst bestimmten Sehwinkel.

Die Welt beurteilt die Dinge über und um sich nur von diesem Tale aus, und deshalb ist es nicht zu verwundern, daß ihr Urteil, wie es auch ausfallen mag, doch stets ein falsches ist.

Hier gilt es mutig gegen den Strom zu schwimmen und uns die Augen immer wieder hell machen zu lassen, wenn uns die Welt einmal Sand hineingeworfen hat.


Was das geistliche Leben betrifft, glich der Flecken B einem öden Gefilde, auf welchem sich hie und da das Gestrüpp einer Werktätigkeit ohne den belebenden Hauch des Christentums sein kümmerliches Dasein fristete. Seit einigen Jahren zwar stand hier ein junger gläubiger Pastor, der unermüdet und unerschrocken allsonntäglich seine Wächterstimme erhob, aber die Seelen lagen in einem tiefen, totenähnlichem Schlaf und waren schwer zu erwecken. Sie waren in den letzten vierzig Jahren übel beraten gewesen; der Hirte, der sie hatte weiden sollen, hatte selbst geschlafen. Nun war er alt und emeritiert und wohnte bei einer verheirateten Tochter. Auch er hörte den Weckruf seines Nachfolgers, aber auch er schlief ruhig weiter. Die Leute im Orte sprachen mit Achtung und einer gewissen Anhänglichkeit von ihm. Er war auch gewiß, nach dem Maßstab der Welt gemessen, ein ehrenhafter, achtungswerter Mann, ein Seelenhirt im Sinne der heiligen Schrift war er aber nicht gewesen. Sein Amt war ihm eine Pfründe gewesen, mehr nicht. St. Pauli Wort an Timotheus: „So jemand ein Bischofsamt begehret, der begehret ein köstliches Werk,“ hatte er wohl nie auch sich gesagt sein lassen.

Ein charakteristisches Streiflicht auf seine frühere Amtsführung wirft ein Gespräch, das er einst in einer Abendgesellschaft mit seinem Amtsnachfolger hatte und dessen Zeugin ich war. Die Pfarre war nicht schlecht dotiert; da aber der Inhaber derselben dem alten Emeritus die Hälfte der Einnahme abgeben musste, so reichte die andere Hälfte nur sehr knapp für eine Familie aus. Dies wußte der alte Herr und darauf Bezug nehmend, sagte er wohlwollend zu seinem Nachfolger: „Lieber Amtsbruder, dieses Jahr können Sie mit Ihrer Einnahme schon zufrieden sein, denn Sie haben schön Tote gehabt!“ Es hatte nämlich eine ansteckende Krankheit geherrscht, und es waren viele Menschen gestorben.

Überall, wohin ich im Orte kam, sah ich mich nach einer Seele um, mit der ich hätte von dem sprechen können, das mir das Wichtigste und Liebste ist, aber lange umsonst. Schon hatte ich die Hoffnung, einer solchen Seele hier in B zu begegnen, aufgegeben, als ich unvermutet da eine fand, wo ich sie nicht gesucht hatte: in dem Hinterstübchen eines ärmlichen Hauses. Hier wohnte eine alte Witwe. Sie war seit einiger Zeit bettlägerig, und auf den Wunsch des Doktors brachte ich ihr von Zeit zu Zeit etwas stärkende Speise. Ich war schon mehrere Male gekommen und gegangen, ohne daß wir uns gegenseitig als Zionspilger1 erkannt hatten. Da sagte eines Tages die alte Frau, als ich nach ihrem Ergehen fragte: „Ich habe Lust abzuscheiden und bei Christo zu sein.“2

„Wirklich!“ rief ich erfreut, „Sie kennen also den Herrn Jesus und haben ihn lieb?“

Die Augen der alten Frau leuchteten in seliger Freude, als sie antwortete: „Ob ich Ihn kenne und liebe? Er ist ja der Trost und die Freude meines ganzen Lebens gewesen!“

Da wußte ich denn, wen ich vor mir hatte, und wir reichten uns jetzt noch einmal die Hände und begrüßten uns als solche, die des gleichen Weges wandern. Von jetzt an besuchte ich die alte Frau, so oft ich konnte, und habe gesegnete Stunden in ihrem kleinen von Rauch geschwärztem Stübchen verlebt.

Einst fragte ich sie, wie es komme, daß unter so vielen Schlafenden sie eine Wachende sei. Da zeigte sie auf eine alte Hauspostille, welche neben Bibel und Gesangbuch auf einem kleinen Bord lag, und sagte: „Das verdanke ich dem alten Valerius Herberger3 dort, der läßt keine Seele zum Schlafen kommen.“

Ich forschte weiter, und sie erzählte mir folgendes: „Die alte Hauspostille4 dort habe ich von meinem Vater selig geerbt. Mein Ältervater5 aber, den ich noch gekannt habe, erzählte, daß diese Postille, so lange er denken könne, in seiner Familie gewesen sei. Sie habe sich immer vom Vater auf den Sohn vererbt. Mein Vater las jeden Sonntag Nachmittag eine Predigt daraus vor, und wir Kinder mussten mit gefalteten Händen dabei sitzen. Und so hab ich`s auch gehalten. Am Sonntag Morgen ging ich zur Kirche, obgleich da nicht viel zu holen war. Gott sei´s geklagt, das liebe Gotteshaus ist mir manchmal vorgekommen wie eine Tenne, auf der Korn gereinigt wird. Das Korn, das liebe Gotteswort, fiel auf die Erde, uns Zuhörern aber flog nichts als Staub und Spreu um die Ohren. Ich bin oft sehr traurig nach Hause gekommen. Am Nachmittag aber holte ich meinen alten Valerius Herberger vom Bord herunter und ließ mir von dem eine Predigt halten. Da sammelte ich Korn, und die Spreu war vergessen. Und wenn die Predigt zu Ende war, konnte ich meine Hände aufs neue falten und recht mit Andacht beten:

„In meines Herzens Grunde
Dein Nam´ und Kreuz allein
Funkelt all´ Zeit und Stunde,
D´rauf kann ich fröhlich sein!“

Die Frau lebte zu meiner herzinnigen Freude noch mehrere Jahre. Eines Tages aber, als ich sie wieder besuchte, sagte sie: „Jetzt darf ich in Bälde heimfahren; freuen Sie sich mit mir! Mein Testament ist gemacht. Die Teilung ist leicht geschehen: Meine geringe Hinterlassenschaft erhält mein Sohn; dafür muss er meine irdische Hülle zur Erde, dahin sie gehört, bestatten lassen. Und meine Seele vermache ich dem Herrn Jesus, dem sie ja schon ohnehin gehört. Nun aber möchte ich gern auch Ihnen ein Andenken hinterlassen. Sie haben so manchen Weg zu meinem Hause gemacht und mir so viel Gutes getan, dafür ich Ihnen jetzt etwas vermachen, daß sich schon seit langer Zeit als ein Vermächtnis in meiner Familie befindet. Es ist ein Kleinod, und sie werden es zu schätzen wissen. Der es besitzt, hat das Recht und die Pflicht, es vor seinem Tode demjenigen unter seinen Verwandten oder Bekannten zu vermachen, bei dem er es am besten aufgehoben glaubt. Dieses Kleinod ist ein Spruch, steht im ersten Briefe Johannis im fünfzehnten und siebzehnten Verse des zweiten Kapitels, und lautet: „Habt nicht lieb die Welt, noch was in der Welt ist. Die Welt vergeht mit ihrer Lust; wer aber den Willen Gottes tut, der bleibt in Ewigkeit.“

Neben dem alten Valerius Herberger verdanke ich es diesem Spruche, daß ich nicht auf die breite Straße des Verderbens geraten bin. Wenn ich in meiner Jugend einmal nach den Lustbarkeiten und Vergnügungen dieser Welt schielte, dann stellte sich dieser Spruch wie eine Engel mit flammendem Schwerte zwischen mich und die Freuden der Welt und rief mir warnend zu: Hab´ nicht lieb die Welt, - die Welt vergeht! Und wenn ich ein Gebot Gottes außer Acht lassen und dawider sündigen wollte, dann rief dieser Spruch mir drohend zu: Hab´ nicht lieb die Welt, - die Welt vergeht! Und wenn mir später die Last und Not des Lebens zu schwer werden wollte und ich seufzte, dann war es dieser Spruch, der freundlich ermutigend mir zurief: Hab´ nicht lieb die Welt, - die Welt vergeht! Und als der Tod kam und mir die Liebsten und Nächsten entriß, und ich drob trauerte und weinte, da war es wieder dieser Spruch, der sanft tröstend zu meiner Seele sprach: Hab´ nicht lieb die Welt, - die Welt vergeht, wer aber den Willen Gottes tut, bleibt in Ewigkeit.

So hat dieser Spruch mich durch das ganze Leben begleitet und mir viel Segen gebracht. Jetzt wird es Zeit, ihn in jüngere Hände zu legen. Im 90. Psalm heißt es: „Unser Leben währet siebzig Jahre.“ Darüber bin ich schon lange hinaus und stehe dicht vor den Jahren, von welchen es heißt: „Und wenn es hoch kommt ...“6 Der Herr kann also jeden Augenblick Seinen Boten senden, mich heimzuholen. Darum nehmen Sie jetzt diesen Spruch, und ehe sie sterben, geben Sie ihn weiter.“

Ich dankte der alten Frau und versprach, ihr Vermächtnis nach besten Kräften zu verwalten und seiner Zeit weiterzugeben.

Diese Zeit glaube ich gekommen. Auch mein Tag neigt sich dem Abend zu, und ich glaube dem Sinn des Vermächtnisstifters nicht zuwider zu handeln, wenn ich dieses Vermächtnis nicht nur an Einen, sondern an Mehrere, ja an möglichst Viele weitergebe. Und dazu scheint mir dieser Weg der geeignetste.

Allen, und insonderheit allen jungen Mädchen, welche diese Blätter lesen werden, sei daher hiermit dieser Spruch aus 1. Johannes 2,15+17 zur treuen Verwahrung und einstigen Weitergabe an andere Zionspilger übermacht. Möge er Allen, in deren Besitzt er gelangt, je nach den Umständen Warnung, Strafe, Ermutigung, Trost und Freude sein!


Am anderen Morgen fand man die alte Frau tot in ihrem Bette liegen. Der Bote war gekommen und hatte ihre Seele heimgeholt. Friedlich mit gefalteten Händen lag sie da. Ich habe lange an ihrem Lager gestanden und in das alte, runzlige, aber von einem Hauche seliger Verklärung überströmte Gesicht geblickt. Das Bittere des Todes hatte sie nicht geschmeckt. „Gott kann durch des Todes Türen uns träumend führen.“


Vier Jahre war ich bereits in B. gewesen, wir schrieben das Jahr 1856. Die Kinder waren größer und verständiger geworden; der Rohrstock war vom Klavier verschwunden, wir hatten jetzt nur unbeschädigte Tassen und Teller auf dem Tisch, und das Tischtuch hatte selbst am Sonnabend Abend keine entfernte Ähnlichkeit mit der Musterkarte, welche sich am ersten Abend meinen Blicken dargestellt.

Louise, jetzt sechzehn Jahre alt, befand sich seit einem Jahre zu ihrer ferneren Ausbildung in Lübeck bei der jetzt nicht mehr gefürchteten Tante Lisette. Adolf besuchte das Gymnasium in Lüneburg und war häufig Sonntags unser Gast.

Man hätte unser Familienleben in jeder Beziehung ein glückliches nennen können, wenn nicht vom Hause gegenüber ein tiefer Schatten auf dasselbe gefallen wäre. Das Familienleben im Hause des Doktor Pillow war mit jedem Jahre ein unglücklicheres geworden. Ihre Kunstbestrebungen hatte Frau Lisette allerdings aufgegeben, die waren ihr nach und nach gründlich verleidet, aber dafür war die Unordnung im Hause womöglich noch größer geworden. Die unglückliche Frau hatte die Lust zu Allem verloren, und das durch ihre Schuld. Mann und Kinder und Haushalt schienen ihr vollständig gleichgültig zu sein.

Dem Doktor war sein Haus nicht nur gleichgültig, sondern offenbar unangenehm geworden; er verweilte in demselben nur so lange, als dringend notwendig war und hielt sich dann auch nur in seinem Zimmer auf; seine Familie sah er kaum bei den Mahlzeiten. Die Abende brachte er entweder im Klubhause oder in der Familie des Amtsrichters Rexius zu. Der Amtsrichter und er waren Studienfreunde; außerdem bot ihm das Haus desselben alles, was er in dem seinigen nicht fand: Ordnung, Sauberkeit, wohlerzogene Kinder und ein gemütliches Familienleben.

Frau Amtsrichter Rexius war eine sehr verständige Frau, sie wußte, daß das Glück der Frauen der Behaglichkeit des Mannes hängt und hatte daher von Anfang an das häusliche Wohlbefinden ihres Mannes zum Hauptziel ihres Tuns gemacht. Sie hatte vier Kinder, welche sämtlich noch klein waren, aber nie hatte der Mann nach seiner eigenen Versicherung je von den Unannehmlichkeiten, welche bei kleinen Kindern fast unvermeidlich scheinen, zu leiden gehabt. Die Kinder waren, wenn er sie sah, stets rein gewaschen, ordentlich angezogen und immer artig. Er liebte die Pünktlichkeit, und das ganze Hauswesen ging wie ein Uhrwerk. Er liebte die Sauberkeit, haßte aber, wie alle Männer, das Reinmachen. Einst klagt ein Freund gegen ihn, daß die Wäschen und das Reinmachen ihm viele ungemütliche Stunden bereiten und setzt hinzu: „Doch, das werden Sie auch kennen.“ Da besinnt der Amtsrichter ein Weilchen und sagt dann: „So viel ich weiß, wird in meinem Hause weder gewaschen noch rein gemacht.“

Um dieses zu erreichen, hatte seine Frau unbedenklich ihre Liebhabereien geopfert. Als Mädchen hatte sie mit Vorliebe Musik getrieben und auch gemalt. Musik und Malerei dienten jetzt ausschließlich häuslichen Zwecken, sie spielte ihrem Manne und ihren Kindern vor und zeichnete den letzteren Tiere und Häuser. Das war alles. „Die schönen Künste müssen ruhen, bis die Kinder erwachsen sind,“ pflegte sie zu sagen, „jetzt habe ich andere Künste auszuüben.“

Da der Amtsrichter im eigenen Hause alles fand, dessen er nach vollbrachter Tagesarbeit bedurfte, so suchte er nur selten eine Zerstreuung außer dem Hause, sondern war am liebsten daheim bei Weib und Kindern. Und den Doktor zog es aus der Unruhe und Unordnung seines Hauses ebenfalls in dies stille, geordnete und gemütliche Hauswesen. Er brachte manchen Abend in der Familie des Amtsrichters zu. Frau Rexius hatte anfangs versucht, auch Frau Lisette zu diesen Abenden heranzuziehen, jedoch vergebens; es herrschte eine zu tiefe Verstimmung in dem Herzen der letzteren gegen die Frau, welche, wie sie meinte, ihr die Liebe ihres Mannes entzogen und das Glück ihres Hauses zerstört habe.

So standen die Sachen im Jahre 1856. Das Verhältnis des Doktors Pillow zu seiner Frau, sowie dasjenige der beiden Frauen zu einander wurde mit jedem Tage beklagenswerter und steigerte sich fast bis zur Unhaltbarkeit. Diejenigen, welche in Liebe und Freundschaft mit einander verbunden sein sollten, haßten, kränkten und mieden sich. Es war für Menschen und Engel ein beweinenswerter Anblick. Wie gerne hätte man da geholfen! Es wurden von dem alten Doktor verschiedene Versöhnungsversuche gemacht, aber vergebens. Der Riss wurde, berührt, nur noch größer.

Im Anfange war auch ich so töricht gewesen, auf Abhilfe zu sinnen, war aber bald zu der Überzeugung gekommen, daß hier Gott allein zu helfen im Stande sei und hatte daher Seinen treuen Händen die ganze Sache befohlen.

Der Herr, dem es bekanntlich nie an Mitteln und Wegen fehlt, wenn wir Menschen schon lange keinen Ausweg wissen, erbarmte sich denn auch dieser Angelegenheit, aber in seiner Weise, d.h. Er schlug, um zu heilen, indem Er die strafenden Folgen der Sünde zu einer Arznei wider dieselbe werden ließ.

Doktor Pillow war eines Tages gleich nach dem Mittagessen zu einem Kranken über Land gefahren. Die Kinder hatten, wie dies schon seit längerer Zeit eingeführt worden, bei mir alle Schularbeiten gemacht. Clärchen blieb noch, um bei mir zu stricken, Otto aber ging mit seinen Schulbüchern unter dem Arm nach Hause.

Etwa eine Viertelstunde später – ich saß am Fenster mit meiner Näharbeit beschäftigt, das kleine Clärchen auf einer Fußbank neben mir – hörten wir von drüben her einen lauten Aufschrei, und ich sah im gegenüberliegenden Wohnzimmer ein seltsames Aufleuchten. Von einer unheimlichen Ahnung erfaßt, sprang ich auf und eilte hinüber. Als ich die Tür der Wohnstube öffnete bot sich mir ein erschreckendes Bild. Der kleine Otto und seine Mutter standen beide in Flammen, die letztere war bemüht, das Feuer zu löschen, aber vergebens. Gleichzeitig mit mir kam auch das Mädchen, welches in der Souterrain Küche ebenfalls den Schrei gehört hatte. Ich riß die Decke vom Sofatisch und schlang sie um die Brennenden. Das Mädchen holte mehr Decken, und so gelang es uns, das Feuer zu dämpfen, aber Mutter und Kind waren entsetzlich verbrannt.

Glücklicherweise war unser Doktor zu Hause, es konnten daher gleich die nötigen Vorkehrungen getroffen werden. Ein langes Krankenlager war vorauszusehen, und deshalb ordnete der Doktor an, daß Charlotte ganz zu ihrer Schwester ziehen, den Haushalt besorgen und einen Teil der Krankenpflege übernehmen sollte.

Der kleine Otto hatte am meisten gelitten, bei ihm waren Beine, Leib und Brust eine große Brandwunde. Bei der Mutter zeigten sich hauptsächlich Hände, Arme und Schultern mit Brandblasen bedeckt. Beide wurden ins Bett gebracht. Die Krankenstube ward eingerichtet.

Später erfuhren wir den Hergang dieses unglücklichen Ereignisses. Frau Lisette hatte in ihrem Zimmer, auf dem Sofa liegend, in einem Roman aus der Leihbibliothek gelesen, Otto dagegen sich im Vorzimmer über eine Schachtel mit Streichhölzern hergemacht und ein Streichholz nach dem anderen abgebrannt. Die Mutter hört es und ruft dem Kleinen zu, die Schachtel fortzustellen; der aber, nicht an Gehorsam gewöhnt, fährt mit seiner Spielerei fort. Die Mutter ist gerade bei einer sehr spannenden Stelle der Erzählung, gedenkt diese erst zu Ende zu lesen, dann aber aufzustehen und dem Kleinen seinen Ungehorsam zu verweisen. Da hört sie plötzlich einen Schrei und sieht zugleich lichten Schein. Sie springt auf und eilt ins Nebenzimmer, aber schon steht der Knabe in Flammen. Er hat ein brennendes Streichholz in den Papierkorb fallen lassen, dessen Inhalt sich sogleich entzündet. Um das Papier zu löschen, stürzt er den Korb um und versucht das brennende Papier auszutreten, wobei sein leichter Sommeranzug Feuer fängt sind sofort in lichten Flammen steht. Die Mutter schlägt um den brennenden Knaben ihr Kleid, das aber ebenfalls Feuer fängt, und so stehen beide, Mutter und Kind, in Flammen.

Als Frau Lisette mir dies erzählt hatte, setzte sie hinzu: „Das unselige Leihbibliotheksbuch, das ist am ganzen Unglück schuld!“ Ich musste mit ihr sprechen: „Das unselige Leihbibliotheksbuch!“ wenn auch in einem erweiterten Sinne, als sie es meinte, denn die Leihbibliotheken tragen, soweit meine Erfahrung reicht, eine große Schuld an dem sittlichen Verderben unseres Volkes und insonderheit des weiblichen Geschlechts. Der größte Teil der Romane und sonstigen Unterhaltungslektüre unserer Leihbibliotheken ist Gift, Gift in feinerer und gröberer Gestalt; es sind dort allerdings in der Regel auch gute, lesenswerte Schriften zu haben, aber bekanntlich greift der natürliche Mensch in uns lieber nach berauschendem Gift, als nach gesunder Speise.

Das Gift in diesen Büchern ist oft so fein, daß sehr geübte Sinne dazu gehören, um es zu erkennen, aber doch wirkt es – zumal anhaltend genossen – verderblich und zerstörend auf das sittliche Leben. Deshalb ist es der Jugend dringend anzuraten, nur solche Bücher zu lesen, welche ihnen von christlich geförderten Personen empfohlen werden. Mein Vater pflegte zu sagen: „Ein Buch, mit welchem in der Hand du nicht vor unserem Herrn Jesus erscheinen möchtest, wirf von dir, so weit du kannst.“ Diese Regel habe ich Zeit meines Lebens befolgt und kann sie meinen lieben Leserinnen als bewährt empfehlen.

Doktor Pillow war bei seiner Rückkehr sehr erschrocken über den veränderten Zustand seines Hauses, doch billigte er alle von uns getroffenen Einrichtungen.

Bei beiden Kranken stellte sich sehr heftiges Wundfieber ein, und ihr Leben schwebte lange Zeit in Gefahr. Der Doktor bemühte sich um eine Krankenwärterin, welche sich mit Charlotte und mir die Nachtwachen teilen sollte. Die Krankenpflege am Tage konnten wir schon besorgen, doch stand zu befürchten, daß, sollten wir eine um die andere Nacht wachen, unsere Kräfte nicht ausreichen würden.

Eine Krankenwärterin nach Wunsch war indes für den Augenblick nicht zu haben. Da erbot sich Frau Rexius in einer so freundlichen, liebenswürdigen Weise, einen Teil der Krankenpflege und namentlich der Nachtwachen zu übernehmen, daß wir ihr Anerbieten nicht ablehnen durften. Sie verstand die Krankenpflege sehr gut und war außerdem so kräftig, daß sie die Kranke ohne Hilfe aus einem Bett in das andere legen konnte.

In der ersten Zeit schien Frau Lisette niemand in ihrer Umgebung zu erkennen; ihr Geist bewegte sich fast ausschließlich in Fieberphantasien, sie hatte wenig lichte Augenblicke. Und später, als das Fieber schwächer wurde, lag sie meist stumm mit geschlossenen Augen und nahm von der Gegenwart der Frau Rexius wenig Notiz.

Der Doktor blieb jetzt viel zu Hause und verbrachte manche Stunde am Bett seiner Frau.

Charlotte und ich benutzten diese Gelegenheit, um, so viel als tunlich, Ordnung und Regelmäßigkeit im Hause herzustellen. Zuerst nahmen wir das Zimmer des Doktors in Angriff; es wurde in seiner Abwesenheit gründlich gereinigt, erhielt reine Gardinen und dadurch ein weit behaglicheres Aussehen. Der Doktor bemerkte diese vorteilhafte Veränderung sogleich und sprach seine Freude darüber aus. Am Abend trank er jetzt regelmäßig den Tee mit uns und war dann häufig ganz gesprächig und unterhaltend.

Eines nachmittags, als er mit Charlotte und mir den Kaffee getrunken hatte, sagte er wehmütig: „Ich möchte, es bliebe immer so gemütlich bei uns, wie es jetzt ist!“ Ich dachte: „Mit Gottes Hilfe soll es das auch.“

Mein alter Doktor fügte sich mit großer Bereitwilligkeit darein, daß Charlotte und ich jetzt die meiste Zeit im Pillowschen Hause waren; die Abende brachte auch er gewöhnlich dort zu.

„Unser Gott ist doch ein meisterhafter Pädagoge, Er weiß zu Seinem Zweck Lagen und Verhältnisse zu schaffen, auf die ein Mensch nie verfallen wäre;“ so musste ich denken, als ich eines Tages in die Krankenstube trat, und folgendes Bild sich meinen Blicken darbot: Frau Rexius hatte die Kranke aufgerichtet, und sie mit ihrem linken Arm stützend, hielt sie ihr mit der rechten hand ein Glas Limonade an die Lippen. Die Kranke nahm das kühlende Getränk mit sichtlichem Behagen zu sich und ruhte dabei willenlos – sie konnte weder die Arme heben noch die Hände gebrauchen – im Arm derjenigen, welche sie als die Zerstörerin ihres Glücks bezeichnet und als ihre Feindin gemieden hatte. Das war ein Stück von der Pädagogik unseres Gottes; Menschen hätten das nimmermehr fertig gebracht.

Als die Kranke soweit hergestellt war, daß sie anfing Teil an den Außendingen zu nehmen, erzählte ich ihr zuweilen aus ihrem Haushalt und von kleinen Veränderungen, welche Charlotte und ich uns erlaubt, und zu denen wir nun noch nachträglich ihre Genehmigung einzuholen hätten. Sie hörte mich freundlich an. Vom Haushalt kamen wir auch auf andere Dinge, und da war es gar wohl zu merken, daß die Zeit der äußeren Ruhe und Abgeschiedenheit eine Zeit innerer Arbeit gewesen war. Ihr Seelenzustand erregte ihr Bedenken und über ihre Pflichterfüllung als Gattin und Hausfrau stiegen ihr Zweifel auf. Sie legte mir in dieser Beziehung Fragen vor, und ich beantwortete ihr dieselben, so gut ich es vermochte, aus Gottes Wort. Auf diese Weise kamen wir uns täglich näher, und bald benutzte ich jeden Augenblick, den wir ungestört beisammen waren, zu einem ernsten Gespräch. Ihre Unwissenheit in geistlichen Dingen war sehr groß, und ihr Urteil daher oft bodenlos. In ihrem elterlichen Hause, in der Schule und im Konfirmandenunterricht war ihr das Wort Gottes nie nahe gebracht! Es war ihr stets etwas Fremdes, sie nicht Berührendes geblieben, da es doch vielmehr die bestimmende Macht unseres Lebens, ja ein Teil unseres Lebens selbst werden soll. Wenn das Wort Gottes nicht unser ganzes Seelenleben durchdringt und regiert, also auch unsere Naturanlagen leitet und bildet, so verwildern dieselben und treiben unfruchtbare Schößlinge. Und daher war es gekommen, daß das, was eine herzinnige, aber gesunde Freude an der edlen Musika hätte sein sollen, bei Frau Lisette in eine alles überwuchernde, schadenbringende Kunstschwärmerei ausgeartet war.

Auch ihr Verhältnis zu Frau Rexius kam zwischen uns zur Sprache; und da sie bereits das gegen ihren Mann begangene Unrecht eingesehen hatte, so war es nicht schwer, auch dieses Verhältnis in das rechte Licht zu stellen; und dieses um so mehr, als sie sich durch die opferbereite Pflege der Frau Rexius dieser ohnehin zum Dank verpflichtet fühlte.

Bei ihrem Manne schien die Gefahr, in welcher ihr Leben geschwebt, die Erinnerung an das zwischen ihnen liegende Unangenehme ausgelöscht und seine begrabene Liebe wieder wachgerufen zu haben. Er verbrachte bald jede freie Stunde an ihrem Bett, las ihr vor, erzählte ihr, und mit jedem Fortschritt, den sie in der Genesung machte, wurde seine Stirn wolkenfreier und seine Stimmung heiterer. Er hoffte auf eine bessere Zukunft, das las man in seinen Augen. Auch die Stimmung der Kranken wurde mit jedem Tage eine lichtere; auch sie blickte hoffnungsvoll in die Zukunft.

Es währte lange, bis sie die Arme wieder heben und die Hände gebrauchen konnte. Den ersten freien Gebrauch, den sie von ihren Armen machte, war, daß sie dieselben um den Hals ihrer ehemaligen Feindin legte und dieser allen Groll und alle bitteren Gedanken, die sie gegen sie gehabt hatte, abbat.

Dies war des Ende einer Feindschaft und der Anfang einer Freundschaft.


Es war mittlerweile Winter geworden und das Christfest vor der Tür; da übernahm Frau Lisette selbst wieder ihren Haushalt, und der kleine Otto ging wieder zur Schule.

Am ersten Weihnachtstage waren die Familien Pillow und Rexius bei uns; es wurde das Genesungs- und – wie ich im Stillen mit Dank gegen Gott hinzusetzte – Versöhnungsfest gefeiert. Wir waren alle sehr glücklich und daher sehr vergnügt. Der alte Doktor rieb sich die Hände, was er immer tat, wenn ihn etwas recht freute. Einmal raunte er mir zu: „Sie haben recht, manches fühlt sich rau wie Unglück an, aber der Kern ist doch Segen.“

Bald nach ihrer Wiederherstellung unternahm Frau Lisette eine gründliche Umgestaltung ihres ganzen Hauswesens, bei der die Wünsche und Eigentümlichkeiten ihres Mannes mehr Berücksichtigung fanden, als dies bisher der Fall gewesen war. Sie wollte ihm das eigene Daheim so lieb und angenehm machen, daß er seine Erholungen nicht mehr außer dem Hause zu suchen brauchte. Dies war für sie keine leichte Aufgabe, denn ihre und ihres Mannes Neigungen gingen nicht mit, sondern gegen einander. Bisher hatten die Wünsche ihres Mannes zurückstehen müssen, von jetzt an sollten die ihrigen unberücksichtigt bleiben. Ihr Lebenselement war die Musik; ihm aber war dieselbe nicht nur gleichgültig, sondern beinahe unangenehm. Sie musizierte daher von jetzt an nur in den Stunden, in welchen ihr Mann außer dem Hause seinem Berufe nachging; sobald er das Haus betrat, war der Flügel geschlossen, und kein Ton ward gehört, so lange er im Hause war.

Der geniale Flug ihrer Seele trug sie beständig über die Wirklichkeit hinaus, sie sah dann die Dinge dieses Lebens gleichsam nur von der Vogelperspektive aus, wobei natürlich manches ihren Blicken entging. Eine Hausfrau aber muss, soll ihr Regiment ein gedeihliches sein, mit allen ihren Sinnen in der Wirklichkeit stehen. Sie muss ein scharfes Auge für alles Ungehörige im eigenen Hause haben, kein Fleck, kein Spinngewebe, kein Stäubchen, kein aufgelöster Stich in der Kleidung von Mann und Kindern darf ihr unbemerkt bleiben. Sie muss auch ein feines Ohr haben, um selbst die leisesten Wünsche ihrer Hausgenossen zu vernehmen, damit dieselben, wenn tunlich Berücksichtigung finden.

Frau Lisette sah dies ein, aber es ward ihr schwer, die Gedanken immer wieder von der genialen Höhe herabzuziehen, um sie im Hause mit Dingen ganz gewöhnlicher Art zu beschäftigen.

„Ich komme mir zuweilen vor wie ein Polizeikommissar,“ klagte sie mir einst, „wenn ich forschend in jeden Winkel spähe, und das Spionieren ist mir in der Seele zuwider. Zudem fürchte ich, mich dergestalt an das Scharfsehen zu gewöhnen, daß ich künftig auch in fremdem Häusern jedes Stäubchen erblicke, und dieses könnte mich zur Splitterrichterin7 machen.“

Ich entgegnete ihr: „Das unangenehme Gefühl, welches Sie jetzt beim absichtlichen Umherblicken im eigenen Hause haben, wird sich verlieren, sobald ihr Auge sich gewöhnt hat, auch ungesucht das Ungehörige zu sehen. Fürchten Sie ferner nicht, durch den scharfen Blick im eigenen Hause zum unbefugten Sehen in fremden Häusern verleitet zu werden, denn eine Hausfrau, welche aus eigener Erfahrung weiß, wie scher es hält, allen Anforderungen der Ordnung und Sauberkeit gerecht zu werden, wird gewiß nicht den Splitter in des Nächsten Auge sehen, ohne zugleich des Balkens im eigenen Auge zu gedenken.“

Doktor Pillow gewahrte sehr bald die Bemühungen seiner Frau, ihm das eigene Haus lieb und angenehm zu machen, und er lohnte ihr diese Bestrebungen durch aufrichtige Anerkennung seinerseits.

Aber nicht nur die äußere Umgestaltung ihrer Häuslichkeit ließ Frau Lisette sich angelegen sein, sondern sie fuhr auch fort, an der Umwandlung ihres eigenen Lebens zu arbeiten.

Einst fand ich sie in der Bibel lesend. Mich zu ihr setzend, gewahrte ich, daß sie Tränen in den Augen hatte.

„Sie haben mir geraten,“ sagte sie, „mein geistiges Angesicht täglich im Spiegel des Wortes Gottes zu betrachten; ich tue es auch, aber es macht mich jedesmal sehr traurig, denn ich gewahre immer aufs neue, wie meilenweit ich noch von dem entfernt bin, was die heilige Schrift von mir fordert. Heute habe ich das einunddreißigste Kapitel in den Sprüchen Salomons gelesen, in welchem uns das Bild eines tugendsamen Weibes entworfen wird; und zu meinem Schmerze habe ich es mir gestehen müssen, daß ich auch nicht einen Zug dieses Bildes an mir trage. Der zwölfte Vers namentlich, in welchem es von dem tugendsamen Weibe in Beziehung auf ihren Mann heißt: „Sie tut ihm Liebes und kein Leides sein Lebenlang“ hat mich tief gebeugt. Ich möchte meinem Manne jetzt nur Liebes erzeigen und tue ihm doch noch so viel Leides; denn bald erzürne ich ihn durch eine Vernachlässigung im Häuslichen, bald reize ich ihn durch ein unbedachtes Wort, bald kränke ich ihn durch eine mißverstandene Handlung.“

Frau Lisette weinte. Ich freute mich dieser Tränen, denn sie zeugten von einem aufrichtigen Streben, und entgegnete: „Liebe Lisette, da unser Herrgott in sehr vielen, ja in den meisten Fällen mit unserm guten Willen vorlieb nehmen muss, so dürfen wir Menschen unter einander auch keinen anderen Maßstab anlegen. Und ihr Mann wird es ebenfalls nicht tun; er wird Ihren guten Willen, ihm nur Liebes und kein Leides zu tun, für die Tat nehmen. Wir dürfen nie vergessen, daß, wo zwei Menschen zusammenkommen, auch zwei Sünder sich zusammenfinden. Daher wird ihr Mann sich ärgern, wenn Sie ihn durch ein unbedachtes Wort reizen; er wird ungeduldig werden, wenn Sie ihn warten lassen, er wird vielleicht auch einmal heftig gegen Sie werden, aber die Sonne ihres guten Willens wird immer wieder hinter dem Gewölk kleiner verschuldeter Verdrießlichkeiten emporsteigen und dasselbe wie Nebel verschwinden lassen, und ihr Mann wird trotz solcher kleiner Verstimmungen doch in seinem Herzen sprechen: Sie tut mir Liebes und kein Leides.“

Frau Lisette reichte mir sichtbar beruhigt die Hand. Das Verhältnis zwischen ihr und Frau Rexius wurde mit jedem Tag ein besseres. Nachdem die bittere Wurzel der Feindschaft zwischen Ihnen war ausgerottet worden, erblühte von selbst die Blume aufrichtiger Freundschaft. Und der Dienst, den Frau Rexius in einer langen, unermüdlichen Krankenpflege ihrer alten Feindin geleistet hatte, wurde ihr später von ihrer neuen Freundin mit reichen Zinsen, wenn auch in einer anderen Münze, zurückgezahlt.

Frau Rexius war als Hausfrau mustergültig, als Mutter unermüdlich; aber sie war eine alttestamentliche Frau. Sie kannte nur die steinernen Gesetzestafeln und den Berg Sinai, um den die Donner des göttlichen Gesetztes rollten und die Blitze der göttlichen Gerechtigkeit zucken. Den Hügel Golgatha kannte sie nicht, und deshalb wohnte in ihrem Herzen trotz aller Pflichttreue und allen Gesetzeseifers doch nicht der Friede, der höher ist als alle Vernunft.

Frau Lisette hatte auf ihrem langen Schmerzenslager gelernt, ihre Augen zu den Bergen zu erheben, von welchen uns Hilfe kommt8, und sie versuchte nun, ihre neue Freundin gleichfalls zu diesen gesegneten Bergen hinzuführen; aber es bestätigte sich hier aufs neue die alte Wahrheit, daß die Tugendhaften und Gerechten nur sehr schwer den Weg zum Heiland, der ein Sünderheiland ist, finden. Frau Rexius meinte anfangs, treue Pflichterfüllung sei der geradeste Weg zum Himmel; wer den gehe, der brauche den Umweg über Golgatha nicht zu machen. Später jedoch hat auch sie mit Gottes Hilfe noch sprechen gelernt:

„Christi Blut und Gerechtigkeit,
Das ist mein Schmuck und Ehrenkleid,
Damit will ich vor Gott bestehn,
Wenn ich zum Himmel werd´ eingehn.“

Ostern 1857 kehrte Louise, welche jetzt siebzehn Jahre zählte, von Lübeck zurück. Ihre schulmäßige Ausbildung war damit abgeschlossen, und sie sollte nun unter meiner Leitung den Haushalt erlernen. Auf Tante Lisettens Wunsch ging jetzt Charlotte „vorläufig auf ein Jahr“ nach Lübeck, um der alten Tante, welche sich seit dem Tode ihres Mannes sehr einsam fühlte, Gesellschaft zu leisten. Pauline war am Palmsonntag9 konfirmiert worden, und da dieselbe den Wunsch hatte, sich zur Lehrerin auszubilden, so war es beschlossen, sie zu diesem Zwecke auf einige Jahre nach Hannover zu schicken. Die Trennung von ihr wurde uns allen schwer, denn sie war immer fröhlich und in einem hohen Grade selbstlos, der Liebling des ganzen Hauses.

Ich brachte sie nach Hannover. Am Tage vor unserer Abreise sagte der Doktor zu ihr: „Mein Kind, lerne so viel Du kannst und willst, aber werde nur nicht gelehrt; gelehrte Frauenzimmer sind mir ganz unausstehlich!“

Pauline, welche es aus ihrer Kinderzeit beibehalten hatte, oft ganz verwunderliche Fragen zu tun, sah einen Augenblick nachdenklich vor sich hin und fragte dann: „Papa, was ist Gelehrsamkeit?“

Der Doktor beantwortete ihr diese Frage mit einem Dichterwort:

„Gelehrtheit, Kind, das heißt:
Mehr sagen, als Du weißt!
Weniger sagen als wissen,
Das heißt der Weisheit beflissen.“

Am Sonntage Judica10 des folgenden Jahres saßen der Doktor, Louise und ich am Abend nach dem Tee noch beisammen und sprachen, wie der Doktor es liebte, über Tagesneuigkeiten. Da wurden Briefe gebracht. Louise erhielt einen Brief, der Doktor deren mehrere, ich ging wie gewöhnlich, leer aus.

Louises Brief war von Pauline. Dieselbe schrieb zufrieden und vergnügt wie immer. „Ich hoffe,“ hieß es in dem Briefe, „Ostern versetzt zu werden; das Lernen macht mir große Freude, und ich bin dem lieben Papa sehr dankbar, daß er mir diese Gelegenheit, meinen Geist weiter auszubilden, verschafft hat; aber ein gelehrtes Frauenzimmer werde ich ganz gewiß nicht. Ich habe hier in Hannover eine sogen. gelehrte Dame kennengelernt, aber ich finde die nichtgelehrten Frauen viel angenehmer. Ich möchte mich in der Welt nützlich machen, aber dazu ist Gelehrsamkeit ja auch nicht erforderlich. Von Tante Cornelia wird doch gewiß kein Mensch sagen, daß sie gelehrt sei, und sie selbst hat uns erzählt, daß sie nur wenig gelernt habe, und doch weiß sie uns auf unsere Fragen stets Antwort zu geben, und wir haben manches von ihr gelernt. Wie oft hat sie zu uns gesagt: „Kinder, heute habt ihr wieder etwas bei mir gelernt, das ich in eurem Alter nicht gewußt habe, seid Gott dankbar dafür!“

Zwischen den Briefen, welche der Doktor erhalten, befand sich einer, der sein Interesse in einem besonderen Maße in Anspruch zu nehmen schien; er las ihn mehrere Mal, schob sein Samtkäppchen von einer Seite auf die andere und räusperte sich, was allemal ein Zeichen war, daß ihn innerlich etwas ungewöhnlich beschäftigte.

Plötzlich reichte er mir den Brief mit den Worten: „Bitte, lesen Sie!“

Ich las, und indem ich den Brief wieder zusammenfaltete, fragte der Doktor, der inzwischen aufgestanden war und im Zimmer unruhig auf und nieder ging: „Nun, was sagen Sie zu dem Briefe?“

„Er gefällt mir, denn er betritt den ordnungsmäßigen Weg.“

„Ja, ja, das gefällt mir auch!“

Weiter wurde an dem Abend über den Brief nicht gesprochen.

Am anderen Morgen ließ der Doktor mich schon sehr früh auf sein Zimmer bitten. Hier folgte ein weitere Besprechung und Beratung über den Brief, der uns beiden eine unruhige Nacht gemacht hatte.

Ein dem Doktor und uns allen unbekannter junger Kaufmann aus Lübeck hielt um Charlottens Hand an. Er schrieb: „Ich habe Ihre Tochter in einer mir befreundeten Familie kennengelernt und sie so herzlich lieb gewonnen, daß ich kein höheres Glück kenne, denn dieselbe als mein eheliches Gemahl in mein Haus einführen zu dürfen. Wohl hätte ich Gelegenheit gehabt, Ihrer Tochter meine Wünsche auszusprechen; ich habe es aber nicht getan, weil ich es nicht für ehrenhaft halte, jemandem sein Eigentum zu nehmen und hinterher der Form wegen mit einer höflichen Verbeugung zu sprechen: „Mit Ihrer gütigen Erlaubnis!“

Hierauf legte er seine Vermögensverhältnisse dar; er hatte ein eigenes rentables Geschäft; und bat den Doktor herüberzukommen, um ihn persönlich kennen zu lernen und Erkundigungen über ihn einzuziehen.

Das Resultat unserer Beratung war, daß der Doktor schon am folgenden Morgen nach Lübeck abreiste. Er blieb bis zum Sonnabend; dann brachte er die Nachricht, daß Charlotte eine glückliche Braut, Herr Carl Müller aber ein noch viel glücklicherer Bräutigam sei, und schenkte Lisette, Louise und mir jeder einen großen Marzipan.

Wir feierten Charlottes Verlobung im engsten Familienkreise, aber sehr vergnügt.

Im Herbst schon war die Hochzeit, welche noch viel vergnügter ausfiel. Herr Carl Müller war ein ernster, stiller Mann, aber Geradheit und Ehrenhaftigkeit sprach aus seinem ganzen Wesen und leistete Gewähr für Charlottes künftiges Glück.

Tante Lisette, obgleich alt und kränklich, war auch zur Hochzeit gekommen. Sie hatte oft Tränen in den Augen, und man merkte es ihr an, daß es ihr schwer wurde, Charlotte herzugeben. Da legte der Doktor seine Hand auf ihre Schulter und sagte: „Lisettchen, alte Schwester, sei nicht traurig, ich gebe Dir meine Louise mit; nicht wahr, Tante Cornelia,“ wandte er sich scherzend zu mir, „wir geben unsere Louise hin?“

„Ja,“ erwiderte ich, „wir können uns eher ohne dieselbe behelfen, als Tante Lisette.“

Diese war durch unsere Opferwilligkeit so gerührt, daß sie erst noch einige Tränen vergoß, dann aber sehr vergnügt wurde und Louise beinahe alle Herrlichkeit der Welt versprach, wenn sie nun an Charlottes Stelle die alte, kränkliche und wunderliche Tante pflegen wollte.

Das junge Ehepaar reiste, wie das so Sitte ist, schon am Hochzeitstage ab; Tante Lisette aber blieb noch vierzehn Tage und nahm dann unsere Louise mit.

Nun waren wir beiden Alten, der Doktor und ich, ganz allein, denn Alfred befand sich seit Ostern in Lüneburg auf der Schule.

Meine Tage flossen jetzt sehr ruhig und sehr bequem dahin, und oft dachte ich: „Dies wird wohl der Übergang zu etwas Neuem sein, denn zu einer dauernden Bequemlichkeit dieser Art bist du noch zu rüstig.“

Und so war es. Zwei Jahre freilich durfte ich diese bequemen und angenehmen Tage genießen, und ich genoß sie mit Dank gegen Gott, aber in Erwartung dessen, das da kommen würde.

Im Sommer 1860 starb Tante Lisette und Louise kehrte zu uns zurück. Hierdurch wurde ich überflüssig im Hause des Doktors und sah darin einen Fingerzeig Gottes, meinen Wanderstab weiter zu setzen. Ich sagte dies dem Doktor. Zwar bot derselbe in seiner allezeit noblen Weise mir an, bei ihm zu bleiben: „Wir haben uns aneinander gewöhnt,“ sagte er, „Sie werden mir sehr fehlen, und auch Ihnen, das weiß ich,“ setzte er mit dem ihm eigentümlichen Lächeln hinzu, „wird es nirgends besser gefallen als hier.“

Dies letzte gab ich bereitwillig zu, glaubte aber doch auf mein Fortgehen bestehen zu müssen. „Daß meine Zeit hier abgelaufen,“ sagte ich, „ist mir klar; nur weiß ich noch nicht, wo Gott mir wieder ein Arbeitsfeld bestellt hat. Wenn ich daher bleiben darf, bis sich mir eine andere Tür auftut, so nehme ich das mit Dank an.“

Louise versteckte von jetzt an die Zeitung vor mir, damit ich nicht in derselben nach einer Stelle suchen sollte. Ich ließ ihr den Willen, indem ich sagte: „Kind der liebe Gott hat viele Mittel, mir den Weg zu zeigen.“

Und er gebrauchte in diesem Falle ein sehr einfaches, naheliegendes und zugleich uns alle befriedigendes Mittel.

Mitte September schrieb Charlotte: „Liebe Tante, Dein Entschluß, unser Haus zu verlassen, hat mich anfangs sehr betrübt; seit gestern denke ich indes anders über die Sache, denn es eröffnet sich mir eine Aussicht, Dich in meine Nähe zu bekommen. Die Hausdame des alten Forstmeisters a.D.v.H., welcher unser Nachbar ist, muss Familienverhältnisse halber plötzlich ihre Stelle aufgeben. Hättest Du nun nicht Lust, dieselbe anzunehmen? Zwar ist der Forstmeister ein sehr wunderlicher, alter Herr, aber ich weiß, Du fürchtest Dich nicht vor den Wunderlichkeiten der Menschen.“

Ich zeigte den Brief dem Doktor und dieser sagte: „Wenn Charlotte auf diese Weise etwas von Ihnen haben wird, so will ich Sie ohne Murren hergeben.“

Noch denselben Tag schrieb ich an Charlotte und bat sie, die Sache zu vermitteln. Wenige Tage darauf erhielt ich ein Schreiben vom Forstmeister, und der Vertrag war abgeschlossen.

Als ich meine Koffer packte und meine kleine Bildergalerie von der Wand nahm, musste ich über mich selbst lächeln, denn ich war in diesen Jahren so weit mit dem Zeitgeist fortgeschritten, daß ich jetzt auch ein Photoalbum mit einer Menge Photographien besaß. Meine kleinen Schattenrisse waren mir aber doch die liebsten geblieben.

„Es ist gut, Tantchen,“ sagte Louise, „daß Du gewissermaßen in der Familie bleibst, ich hielte es sonst vor Traurigkeit gar nicht aus.“

Der Abschied wurde uns allen dennoch nicht leicht; mir ward er sogar sehr schwer. Ich hatte hier in B. ein reich gesegnetes Arbeitsfeld gehabt und viel Liebe geerntet. Aber der Herr winkte und deshalb zog ich auch diesmal getrost meine Straße.


1)  Auf bildhafte Weise drückt sie hiermit aus, dass sie auf dem Weg dorthin ist, wo Gott wohnt, denn im Alten Testament war auf dem Berg Zion der Tempel, d.h. die Wohnung Gottes.

2)  1.Timotheus 3,1

3)  Valerius Herberger 1562-1627 ist der Dichter des Liedes „Valet will ich dir geben, Du arge falsche Welt“.

4)  Wahrscheinlich handelt es sich um das Werk mit dem Originaltitel „Herzpostille“.

5)  Großvater

6)  ... so sind es achtzig Jahre

7)  Sie denkt hier an Matthäus 7,1-5 wo Jesus diejenigen tadelt, die den Splitter im Auge des anderen sehen, aber den Balken im eigenen Auge nicht sehen.

8)  Psalm 121,1

9)  Eine Woche vor Ostern

10)  Zwei Wochen vor Ostern


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