Licht von Oben - Buchdeckel

Die letzten fünfzehn Jahre meiner Dienstzeit

Der Forstmeister v. H. hatte früher in hannoverschen Diensten gestanden, lebte aber seit seiner Pensionierung in Lübeck, woselbst seine einzige Tochter verheiratet war. Seine beiden Söhne dienten, der eine als Rittmeister, der andere als Premier Leutnant der hannoverschen Armee.

Der Forstmeister hatte in seinem Dienste manche unverdiente Kränkung erlitten und in seinem Familienleben viele tiefschmerzende Erfahrungen gemacht. Seine erste Frau war gestorben. Als seine Kinder kaum erwachsen gewesen, hatte er sich wieder verheiratet mit einem jungen und schönen Mädchen. Seine zweite Frau hatte ihm die Treue gebrochen und war mit einem Neffen, den er erzogen und wie einen Sohn gehalten, nach Amerika gegangen. Und weil er die Salbe nicht kannte, welche jede Wunde heilt und jeden Schmerz stillt, so war durch das Erlebte und Erlittene sein Gemüt verbittert und sein Herz verschlossen worden. Er galt im Kreise seiner Verwandten für einen Sonderling und Menschenfeind; man mied seine Gegenwart, wie er die Gesellschaft der Menschen haßte.

Im Dienste dieses alten Herrn sollten fortan meine Tage dahinfließen. Ich versprach mir nicht viel Freude von der nächsten Zukunft. Der alte Herr war in einem hohen Grade wunderlich und unfreundlich; es war sehr schwer, ihm etwas recht zu machen. Was ihm an dem einen Tage gefiel, war ihm am nächsten Tage vielleicht schon zuwider.

Sowohl Haushälterinnen wie Dienstmädchen hatten es selten länger als ein Jahr bei ihm ausgehalten.

Der alte Herr tat mir in der Seele leid, und ich konnte ihm daher trotz seiner Unzufriedenheit und Heftigkeit nicht zürnen, musste vielmehr bei solchen Unmutsausbrüchen denken: „Wie sehr mögen ihn jetzt wieder die alten ungeheilten und unverbundenen Wunden schmerzen!“ Bei ihm fand Anwendung, was ich einmal in dem alten Kunstepos „Tristan und Isolde“ gelesen:

„Oh, wie selten verstehen wir
Ein Menschenwort im Leben hier!
Wie wir es oben hören tönen
Können wir´s schelten, können´s höhnen,
Weil keiner fragt nach dem stillen Grund,
Von dem es aufsteigt zu dem Mund.“

Diese Stelle hat mir in den Jahren meines Aufenthalts im Hause des Forstmeisters von H. oft gute Dienste geleistet, wenn die Heftigkeit des alten Herrn meine Ungeduld reizen wollte.

Obgleich der Forstmeister seiner Tochter wegen nach Lübeck gezogen war, so hatte er doch wenig Beziehungen zu seinen Kindern. Sein Schwiegersohn und er mieden sich augenscheinlich, so viel sie konnten, und auch seine Tochter schien ihn nicht zu verstehen, wenigstens hatte sie mit seinen Schroffheiten nicht die erforderliche Geduld. Freude machten ihm in seinen guten Stunden seine beiden Enkelkinder, ein Mädchen von drei und ein Knabe von fünf Jahren. Es waren allerliebste Kinder, und so ziemlich die Einzigen, welche sich vor ihm nicht fürchteten. Sie kamen oft, spielten bei ihm in der Stube, und er beschenkte sie. Aber oft mitten in seiner Freude über die Kinder brachen die alten Wunden seines Herzens mit neuer Heftigkeit auf, und der Geist von Unten raunte ihm die Worte zu, die wie ein Pesthauch über seine einzige Freude dahinzogen und ihm auch diese vergällten.

Einst, als er eine ganze Weile mit den Kindern gespielt und sich über ihre drolligen Einfälle ergötzt hatte, stand er plötzlich auf und sagte, auf das kleine Mädchen deutend: „Ja, jetzt ist sie noch eine liebliche Blume, und es erquickt das Herz, sie anzuschauen, aber sie wird ein Weib werden und wird ihrem Manne die Treue brechen, und er,“ dabei wies er auf den Knaben, „wird heranwachsen, und seine Augen, die jetzt noch so klar und unschuldsvoll blicken, werden nach fremdem Eigentum sehen, und er wird Verrat üben!“

Der alte Mann wandte sich ab und bedeckte seine Augen. Ich hätte mit ihm weinen mögen. - Ja, wie selten doch verstehen wir ein Menschenwort im Leben hier?

Oft schon hatte ich darüber nachgedacht, auf welche Weise wohl ein Zugang zu diesem krampfhaft verschlossenen Herzen zu finden sein möchte. Lange wollte sich mir auch nicht die geringste Spalte zeigen. Da, nachdem ich fast ein ganzes Jahr vergebens ausgespäht hatte, bot sich mir ganz ungesucht eine Handhabe, um dem alten Herrn etwas näher zu treten. Ich bemerkte nämlich, daß ihm seit einiger Zeit das Lesen bei Licht schwer wurde, er nahm oft die Brille ab, putzte die Gläser sorgfältig mit seinem seidenen Taschentuch und rieb sich die Augen. Ich erbot mich daher, ihm die Zeitung vorzulesen. Er sah mich an und sagte: „Verstehen Sie denn, eine Zeitung vorzulesen? Es ist nicht so leicht, und schlechtes Vorlesen liebe ich nicht.“

Dies klang nun zwar nicht sehr ermutigend, dennoch erwiderte ich, er möge nur den Versuch wagen, ich werde mir Mühe geben. Er reichte mir die Zeitung, indem er sagte: „Meine Augen werden jetzt recht schwach.“ Dann, wie zu sich selbst redend, fügte er hinzu: „Es ist auch kein Wunder, sie haben schlimme Dinge sehen müssen.“

Die Probe schien ziemlich zu seiner Zufriedenheit auszufallen, wenigstens sagte er, als ich die Zeitung niederlegte, ich könne, wenn ich wolle, ihm jeden Abend die Zeitung vorlesen. Diese Erlaubnis freute mich, denn ich dachte: „Das kann vielleicht die Spalte werden, nach der Du so lange gesucht.“

Am folgenden Abend tat ich beim Vorlesen einige Fragen, welche ihm Gelegenheit gaben, über Politik zu sprechen. Ich hörte aufmerksam zu und tat weitere Fragen, was ihm lieb zu sein schien. Allmählich, aber nur sehr langsam, taute er gegen mich auf. Wir sprachen nicht nur über Politik, sondern mit der Zeit auch über andere Gegenstände. Wir beschränkten uns auch nicht nur auf die Zeitung, sondern ich las ihm später auch aus Büchern vor.

Als ich vier Jahre bei ihm gewesen war, hatte sich unser Verhältnis zu einander schon recht angenehm gestaltet. Er wurde nur selten heftig gegen mich und konnte zuweilen sogar seine Zufriedenheit mit einer Sache aussprechen. Einst sagte er zu mir: „Fräulein Jocundus, ich glaube beinahe, Sie sind ein ganz vernünftiges Frauenzimmer!“ Ich entgegnete lachend, daß dies das größte Kompliment sei, das er mir habe machen können. Da lächelte auch er; gleich darauf aber kam wieder der böse Geist über ihn, und er sagte: „Alle Frauen sind Evastöchter und haben einen Bund mit der Schlange gemacht!“1

Verkehr außer dem Hause hatte ich nur mit der Tochter des Forstmeisters und Charlotte. Dies genügte mir, ich hatte nicht nach mehr gesucht. Ein stilles ungestörtes Stübchen für mich allein war mir die liebste Erholung. Wenn man über fünfzig ist, hat man die Lebenshöhe hinter sich, es geht dem Tale zu, und Ruhe ist uns lieber, als viele Bewegung; auch schaut man lieber in sich und über sich, als um sich. Die alten Bekannten bleiben uns lieb und teuer, ja sie werden uns, je näher dem Abschied, desto lieber und teurer, aber wir sehnen uns nicht danach, neue Verbindungen anzuknüpfen, es ist, sozusagen, nicht mehr der Mühe wert.

Mit Louise stand ich in Briefwechsel und erfuhr durch sie von den übrigen Bekannten in B. Louise war – was die in die Augen fallenden natürlichen Anlagen betrifft – von ihren Geschwistern die am wenigsten begabte; nichts glänzte und schillerte an ihr, aber sie hatte ein tiefes, kindlich frommes Gemüt und erfaßte ihre Lebensaufgabe mit Ernst und Mut. Einst schrieb sie mir: „Ich werde nicht heiraten, ich will bei Vater bleiben und ihn pflegen, wenn er alt wird.“ Hierauf antwortete ich ihr: „Deinen Entschluß, nicht zu heiraten, finde ich unter den gegebenen Verhältnissen sehr natürlich; Du tust aber doch am besten, auch über diese Angelegenheit Deine Hände zu falten und zu beten: Herr, es geschehe Dein Wille!“


Das Jahr 1866 kam und brachte Deutschland den traurigen Bruderkrieg. Beide Söhne des Forstmeisters fochten bei Langensalza für ihr angestammtes Herrscherhaus. Der jüngere fiel auf dem Felde der Ehre. Der Verlust seines Sohnes ging dem Forstmeister sehr nahe. Er sprach nie darüber, aber oft fand ich ihn in seinem Lehnstuhl sitzend mit geschlossenen Augen und Tränen auf den Wangen.

Gern hätte ich zu meinem unglücklichen Herrn von Christentrost und Christenhoffnung geredet, aber ich durfte es nicht. Einmal hatte ich es gewagt, des zukünftigen bessern Lebens gegen ihn zu erwähnen, war aber von ihm sofort abgewiesen worden mit den Worten: „Schweigen Sie davon, das sind fromme, aber grundlose Vermutungen. Gäbe es überhaupt einen lebendigen, gerechten und allmächtigen Gott, dann würde nicht so viel Ungerechtigkeit in der Welt sein können!“

Von da an schwieg ich, eingedenk des Wortes 1.Petrus 3,1, „daß auch die, so nicht glauben an das Wort, durch der Weiber Wandel ohne Wort gewonnen werden.“

Wir lebten still und traurig weiter. Die Körper und Geisteskräfte meines alten Herrn nahmen sichtlich ab. Er wurde immer stiller, doch hatte er es gern, wenn ich um ihn war, ihm vorlas oder ihm erzählte.


Im Jahre 1870 zog sein ältester Sohn mit gegen die Franzosen. Er fiel vor Metz. Diese Nachricht brach die letzte Lebenskraft meines Herrn. Er starb, wie er gelebt, in starrer Verschlossenheit. Einmal, wenige Stunden vor seinem Tode, als ich ihm einen Labetrunk gereicht, fragte er mich: „Haben Sie noch etwas für mich?“ Ich antwortete: „Ja, wer den Namen des Herrn anrufen wird, soll selig werden!“2 Da seufzte er und legte sich auf die andere Seite.

Ihm wurden nicht viele Tränen nachgeweint. Ungekannt und ungeliebt war er durchs Leben gegangen. Er war keine unedle Natur gewesen; aber die Schläge, die ihn hätten weich machen sollen, hatten ihn mehr und mehr verhärtet, weil er nur auf die Rute gesehen, die ihn geschlagen, und nicht auch auf die Hand, welche die Rute geführt.

Am Tage nach der Beerdigung händigte mir seine Tochter eine nicht unbedeutende Summe mit den Worten aus: „Vater selbst hat dieses für Sie bestimmt.“

Nun war ich frei und hätte mich am liebsten schon jetzt zur Ruhe gesetzt, denn die letzten Jahre waren körperlich und geistig sehr anstrengend für mich gewesen, aber es sollte noch nicht dazu kommen.

Louise hatte sich trotz ihres Entschlusses, nicht zu heiraten, im Sommer mit dem dort eingeführten jungen Pastor verlobt. Der alte Doktor schrieb mir einen so herzlichen Brief und bat mich, wieder zu ihm zu kommen und bei ihm zu bleiben, - „bis der Tod uns trennt,“ hatte er in seiner launigen Weise hinzugesetzt – daß ich unmöglich Nein sagen konnte.

So zog ich denn abermals in B. ein. Mein Empfang war ein herzlicher und festlicher. Louise hatte das Haus bekränzt und einen Topfenkuchen gebacken. Als der alte Doktor und ich uns beim ersten Wiedersehen die Hände schüttelten, hatten wir beide Freudentränen in den Augen.

Zu Louisens Hochzeit kam auch Pauline, welche seit mehreren Jahren als Erzieherin in England war und dort gern weilte. Zwar hatte sie einige englische Manieren angenommen: „Das geht dort nicht anders, Tante,“ sagte sie entschuldigend, aber gelehrt war sie glücklicher Weise doch nicht geworden. Sie war ganz das liebe bescheidene Mädchen von früher geblieben. Erst im Herbst kehrte sie nach England zurück.

Louise wurde eine wackere, tätige Pfarrfrau. Ich blieb noch beinahe fünf Jahre in B., und diese zählen zu den angenehmsten meines ganzen Lebens. Sie bilden den behaglichen Übergang zu dem Stillleben meines Altersstübchens.

Im März 1875 schloß auch mein lieber alter Doktor die Augen, und wie ich fest hoffe, als ein versöhntes Gotteskind. Nun war ich wieder frei. Es wurden aber keine Ansprüche mehr an mich gestellt. Mein Sabbat war da, ich durfte ausruhen nach der langen Arbeitswoche dieses Lebens. Louise und Frau Lisette wünschten, ich möchte mein Altersstübchen in B. errichten; aber so viele liebe Erinnerungen und Beziehungen mich dort auch festhielten, so zog es mich doch mächtiger hierher, nach meiner alten Heimat, wo noch zwei Geschwister von mir leben. Da, wo mein irdisches Leben seinen Anfang genommen, da soll es auch zu Ende gehen; und es ist mir ein angenehmer Gedanke, daß meine irdische Hülle auf demselben Friedhofe ruhen wird, wo so viele meiner Vorfahren dem großen Auferstehungsmorgen entgegenschlummern. Ich kann sehr wohl die Empfindung verstehen, welche Johann Heermann veranlaßt hat, in seinem Gesange „Oh Gott, Du frommer Gott,“ den Wunsch auszusprechen: „Dem Leib ein Räumlein gönn´ bei seiner Eltern Grab.“ Uns, die wir leben, ist es ein, ich möchte sagen wöhnlicher Gedanke, auch im Tode mit denen, welche uns hier im Leben die nächsten gewesen sind, vereint zu sein.

Der Doktor hatte mir in seinem Testamente ebenfalls etwas ausgesetzt und außerdem in sinniger Weise verschiedene Möbel für mich bestimmt, an die sich für mich besondere Erinnerungen knüpften, so z.B. den Nähtisch, den ich dort gebraucht, und einen Lehnstuhl, den ich seiner Bequemlichkeit wegen den „Bischofsstuhl“ zu nennen pflegte.

Bald nach Ostern 1875 zog ich hierher in diese allerliebste kleine Wohnung mit Morgensonne und der Aussicht auf zwei prächtige Linden. Als ich meinen Einzug in dieselbe hielt, betete meine Seele: „Herr, was ist der Mensch, daß Du Dich sein so annimmst? Und des Menschen Kind, daß Du ihn so achtest? - Ich will Dich täglich loben und Deinen Namen rühmen immer und ewiglich!“


1)  Er bezieht sich auf 1.Mose Kapitel 3

2)  Römer 10,13


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